Die Medietra-Wälder

Selin rollte mit den Augen.

>> Sie wälzen sich bestimmt nicht auf dem Boden. <<

Sie sah über die Klippe.
>> Wir werden rüber müssen. <<

Nekir schnaufte und schüttelte sich.

Sie waren gerade erst auf diese Seite gekommen
und es gab - außer Selins Flugkünsten - keinen
sicheren Weg hinüber.

Und sie sollten das freiwillig gleich noch mal tun?

>> Dann sag mir, wie du herausfinden willst, ob sie nach links
oder rechts entlang der Klippe gegangen sind. <<
gab Selin gereizt zurück.


Dann zischte sie kurz wütend.

>> Ach, egal! <<

Sie spannte ihre Flügel aus und schoss in die Höhe.

Nekir blickte ihr hinterher.

Was wurde das jetzt?

Selin flog hoch über die Baumkronen und versuchte, die Zwei ausfindig zu machen.


Als Furie hatte sie bessere Sinne, die ihr das ermöglichten.

Gleich darauf flog sie wieder runter.

>> Es bringt nichts, wenn ich in meiner menschlichen Gestalt bleibe. <<
knurrte sie.

Genau das wollte sie nicht! Aber jetzt musste es ja sein.

Sie spannte sich kurz an und verwandelte sich dann in ihre Furiengestalt, die
schon normalen Menschen den Wahnsinn und die Angst beim bloßen In-Der-Nähe-Sein
ins Herz jagen würde.


So umgewandelt flog sie wieder hoch.

Nach kurzer Zeit kam sie runter und verwandelte sich zurück in ihre harmlosere
Gestalt.

>> Ich habe sie. <<
meinte sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln.

Als sie sich verwandelte, zuckte Nekir ein Stück zurück,
doch als sie zurückkehrte, beherrschte er sich gerade so.

Diese Gestalt war...berauschend, auf eine gewisse Art.
Diese ihr innewohnende Gefahr...aber auch das Wissen,
dass es trotzdem Selin war.

Mit schiefgelegten Kopf blickte Nekir Selin an.
Schön, sie hatte sie. Und wo?

Selin ging ohne ein weiteres Wort los.


>> Sie sind nicht weit weg.

Dieser Kerl hat eine Eisbrücke über die Schlucht gebaut. <<

Nekir zögerte für einen Moment und blickte zurück.

Das hatte er nicht da tun können, weil...?

>> Ganz ehrlich.

Er ist mir nicht geheuer. <<
meinte Selin, während sie stur geradeaus ging.

>> Aber Tyrinia ist es auch nicht.
Miststück.

Vielleicht passen die beiden ja doch zusammen.
Wäre schön, wenn sie sich gegenseitig fertigmachen und sie endlich
aufhört, anderen die Freunde auszuspannen.
Miststück. <<
knurrte Selin.

>> Oder er friert sie ein und ich haue einmal kräftig dagegen, sodass
das Übel in tausend Teile zersplittert. <<
überlegte sie mit einem schadenfreudigen Lächeln.

Nekir schnaufte und nickte.
Den Anblick stellte er sich lustig vor.

Und Tyrinia mochte er auch nicht.

Selin ging weiter voran.

Bei einer Sache musste sie Tyrinia jedoch Recht geben.

Je schneller sie vorankamen, desto besser war es für
alle Beteiligten.

Nekir der Wolf tapste ihr weiter hinterher.

Es blieb ihm ja nichts anderes übrig.

Sie erreichten den Pfad, den Tyrinia und Riyad eingeschlagen hatten und
sahen auch aus der Ferne die zwei Mitreisenden entlangeilen. 


>> Anscheinend haben sie an Tempo zugelegt. <<
meinte Selin irritiert.

>> Wollen die uns so schnell wie möglich hinter sich lassen
oder wieso eilen die dem Gebirge so entgegen? <<


Tyrinia und Riyad hatten währenddessen kein weiteres Wort mehr gewechselt.

Tyrinia war wieder in ihren Zustand der neutralen Desinteresse verfallen.
Ihre Aufmerksamkeit galt eher der Umgebung und dem Gebirge.

Nekir schnaufte und lief schneller.

Sie mussten sie immerhin irgendwann einholen können.



Riyad befand sich in einem ähnlichen Zustand und
verfluchte sich innerlich dafür, dass er die Kontrolle
verloren hatte.

Wie hatte das geschehen können? Seine Tarnung hätte
auffliegen können!

Zum Glück kannte Tyrinia seine alternative Persönlichkeit
noch nicht gut genug, um zu ahnen, dass er so etwas
für gewöhnlich nicht tat.

Selin ging nicht wirklich viel schneller.

Sie hatte es nicht eilig, zu ihnen zu stoßen.

Deshalb blieb sie hinter dem Wolf.


Tyrinia runzelte die Stirn und kehrte zurück zu Riyads und ihrem Stützpunkt.

Sie sah kurz zu Riyad rüber, um sich zu vergewissern, ob er es war, der ihr
Stirnrunzeln ausgelöst hatte.
War er nicht.

Sie sah nach hinten und blieb stehen.
>> Nein, wie interessant. <<

Der abgeneigte, vorwurfsvolle Ton durchriss die mühsam aufgebaute Stille
in der Atmosphäre zwischen ihr und Riyad.

Nekir blieb stehen, wandte sich zu ihr um und wartete,
bis sie ihn eingeholt hatte.

Er erinnerte sich daran, dass Selin und Tyrinia nicht
sonderlich gut miteinander auskamen.
Nun, da konnte er mehr Zeit mit ihr alleine verbringen!




Riyad wandte sich ebenfalls um und entdeckte die
beiden anderen.

Schulterzuckend wandte er sich wieder nach vorne um
und ging weiter.

Selin lieferte sich ein Tötungsblickduell mit Tyrinia, bis Tyrinia sich
-anscheinend wieder desinteressiert- abwandte und weiterging.

Selins Augen verengten sich voller Abneigung, doch sie hatte Nekir schon eingeholt

So gingen sie in kleiner Entfernung hinter Tyrinia und Riyad.

Der Tannenwald verdichtete sich und das Gelände wurde felsiger.

Sie näherten sich dem Fuß des Gebirges.


Auch verdunkelte sich die Umgebung, da die Wolken sich zahlreich an den
Gipfel ballten.

Eine unheilschwangere Atmosphäre baute sich an.
Es stank nahezu nach einem Gewitter.

Ein Muskel in Riyads Gesicht zuckte.

Er mochte keinen Regen.



Nekir lief fröhlich neben Selin her.

Selin gefiel das ebenfalls nicht.

Dadurch würden sie schlechte Sicht haben.

Und schlechte Sicht war ein gefundenes Fressen für heimtückische Wesen.

Sie wusste es nur zu gut, weil sie selbst eines war.

Riyad blickte noch einmal schnell auf die Karte, bevor es zu
dunkel - und zu nass - wurde.

Ihr nächstes Zwischenziel schien wohl nicht mehr weit weg
zu sein - wofür er sehr dankbar war.

Die Vier beeilten sich, denn ein lautes, aber noch entferntes Grollen
ließ die Gegend erzittern und bäumte sich bedrohlich hinter den
Gipfeln auf.

Tyrinia seufzte.

Es sah danach aus, dass sie in dem Dorf Unterschlupf suchen mussten.

Etwas anderes würde sehr unangenehm ausgehen und sie zwingen, lange mit den
Drei auf engem Raum zu sein.

Deshalb setzte sich noch einmal einen Gang drauf.

Selin sah sich immerwieder um.
Etwas irritierte sie. Aber sie konnte es nicht in Worte oder Gedanken fassen.

Riyad hielt mit Tyrinia Schritt.

Dass hier noch ein Dorf war, war wirklich ein Glück.

Solange sie ihnen auch helfen würden.

Selin ging hinter ihnen her.


Sich ständig über die gesamte Situation brachte ihr auch nichts.
Deshalb suchte sie sich eine neue Beschäftigung.

>> Wieso läufst du jetzt die gesamte Zeit als Wolf durch die Gegend?

Du kannst so bleiben. Dann kannst du wenigstens nicht grinsen.
Und selbst wenn, dann ist es eben nur ein wölfisches Grinsen. <<
meinte sie und blickte wieder nach vorne.

Nekir blickte sie für einen Moment ausdruckslos an, dann
gelang es ihm auch als Wolf, anzüglich zu grinsen.

Übung machte eben den Meister.

Selin spannte sich an als würde sie gleich einen Wutausbruch bekommen.

>> Verdammt, Nekir! <<


Tyrinia verdrehte die Augen.
Allmählich wurde es dunkler.

Nun mussten sie schon steiler wandern, da sie das Gebirge erreicht hatten.

Die Umgebung wurde zunehmend unübersichtlicher durch das bergige Gelände
mit dem Tannenwald.

Dies war einer der Momente, in dem Riyad dankbar für sein
dämonisches Erbe war. Denn so schwach es auch hervortrat,
es war für ihn noch immer ein Leichtes, die Welt um ihn herum
zu erkennen. Zwar konnte auch er weder durch Bäume noch
durch Felsen sehen, aber trotzdem gab es ihm bei den
Lichtverhältnissen einen großen Vorteil.



Auch Nekir blieb in seiner Wolfsgestalt - seine Nase würde ihm
hier mehr nutzen als seine Augen.

Tyrinia konnte von einem ähnlichen Vorteil wie Riyad profitieren dank
ihrer genetischen Herkunft.

Selin war ein Wesen der Dunkelheit.
Deshalb fühlte sie sich sogar wohler in den nun eintretenden Verhältnissen.

Während die Gruppe sich allmählich über den Kamm des Gebirgsfußes kämpften,
begann ein Tal sich links neben ihnen zu formieren.

Es war gefüllt mit Nebel und zeigte deshalb nicht, was es beherbergte.

Einige Tannenspitzen ragten aus dem Nebelmeer hervor wie dunkle,
spitze Felsen und verrieten, dass die Vegetation im Tal nicht anders zu sein
schien als auf dem höher gelegenen Kamm, auf dem die Vier gerade wanderten.

Die Wolken ballten sich bedrohlich am Himmel zusammen und das
gesamte Umfeld veränderte sich zu einer grau-schwarzen, düsteren
Landschaft.

Tyrinia schien sich gerade hier sehr gut auszukennen,
denn sie hielt nach etwas Ausschau.

Nach einiger Zeit kamen sie an einen Holzpfahl mit einer dicken Tafel an.

Beim Näherkommen erkannten sie, dass es sich um ein Ortsschild handelte.

Dort stand in nett geschwungenen Buchstaben "Deasia".

Tyrinia blieb kurz stehen und sah sich um.

Das Wetter war sehr neblig und ließ alles um sie herum undeutlich verschwimmen.

Es war nun schwer, mit dem Nebel und der nun eintretenden Dunkelheit,
Konturen in der Landschaft zu erkennen.

>> Wir müssen hier gleich runtersteigen. <<
verkündete sie den Riyad, Selin und Nekir.

Riyad blickte voraus und versuchte, zu sehen,
wo genau die erwähnte Stelle lag.


Nekir hielt sich hinten. Er konnte nichts mehr sehen.

>> Das Dorf klingt wie ein rosa Märchenschloss. <<
kommentierte Selin von hinten.

Tyrinia, die gerade an den Rand des Abgrundes gegangen war und
anscheinend nach einem Weg nach unten suchte, hielt kurz inne und
drehte sich zu den Drei.

Was für einen Blick sie Selin zuwarf, konnte man in der Dunkelheit sehen.

Selin vermutete das Naheliegendste - den bösen.


Tyrinia wandte sich wieder um und hatte anscheinend gefunden, was sie
gesucht hatte.
Sie hockte sich hin, eine Hand auf dem Rand und war weg.

Kurz war es still.

>> Kommt ihr? <<
kam es dann aus dem Abgrund.

Riyad hatte keine Ahnung, was da gerade geschehen war.

Also ließ er höflich den anderen den Vortritt.