Das alte Anwesen

Am entgegengesetzten Rand von Estarya befindet sich ein
altes Anwesen.

Es wird von niemandem bewohnt, aber äußerst gerne von Schulklassen
zum Übernachten benutzt.

Es sammeln sich gruselige Gerüchte um dieses Gebäude.

Derdekia kam zusammen mit Namó vor dem alten Anwesen an.

In einiger Entfernung blieb sie stehen und blickte auf das Gebäude.

Dieser ganze Anblick war ihr nicht geheuer.
Es schien, als würde dieses Haus leben... aber es war voll von Boshaftigkeit.
Als würde es nur darauf warten, sie beide bei lebendigem Leibe zu
verschlingen und in den abgrund zu stürzen.

Und es war so still hier.
Keine Vögel, kein Rauschen.

Nur das leise Geräusch des Windes.

Derdekia schluckte leise.
Sie war normalerweise ein mutiger Engel, doch das machte
ihr Respekt.
Großen Respekt.

Námo empfand ähnlich - aber das würde er doch niemandem
auf die Nase binden müssen!

"Ziemlich düster, dieses Haus, was? Mein Kompliment an den
Architekten - das hier ist ein Traum für jeden Horrorfilm-Fan!
Man fragt sich schon, wo die Monster auftauchen."

Natürlich endeten Horrorfilme nur selten gut für alle Beteiligten...

Námo erschauderte und beschloss, nicht länger darüber
nachzudenken.

>> Hoffentlich werden sie uns nicht mit ihrer Anwesenheit beehren. <<
meinte Derdekia, als sie sich schließlich
ein Herz fasste und auf das Anwesen zuging.

Sie versuchte ein Lächeln zustande zu bringen, doch es war
eher eine nervöse Grimasse.

Námo schnaubte.

"Sieh uns an - wir sind ja zwei Nervenbündel!
Es würde mich nicht wundern, wenn wir gleich
anfangen zu zittern wie Espenlaub..."

Schnell folgte er ihr. Er wollte nicht zurückgelassen
werden - das Anwesen war wirklich unheimlich!

Derdekia lachte, aber es klang eher nervös als heiter.

>> Da hast du Recht!
Wir sind tolle Schutzengel. <<

Sie öffnete die Tür und trat einen Schritt zurück,
als diese sich mit einem leisen Quietschen öffnete.

>> Aber ich habe noch nie so viel Boshaftigkeit gespürt. <<
gestand sie dann flüsternd.

Námo hätte gerne einen Kommentar in Richtung
"ich schon, jedes Mal, wenn etwas deine Haare
durcheinanderbringt" abgegeben, doch stattdessen
nickte er lediglich stumm mit dem Kopf.

Das Anwesen wirkte gar nicht mehr wie ein Gebäude,
sondern viel mehr wie eine Kreatur, die gerade ihr
Maul geöffnet hatte.

Und er und Derdekia würden gleich hineingehen.

"Hallo, der Pizzaservice ist da", murmelte er leise.

Die Pizza sind wir...

Es war ein flüchtiger Gedanke.
Doch er traf vielleicht ganz gut zu auf
ihr Gefühl.

Vorsichtig betraten sie das Haus.

Stille begrüßte sie.
Eine fast schon zu ruhige Stille.

In Námo wuchs das Bedürfnis, durch das ganze
Anwesen zu brüllen, um diese Stille zu vertreiben.

Doch dann hätte er wirklich den Pizzasatz rufen
können. Sie wollten ja nicht gleich, dass alles hinter
ihnen her war!

Er erzitterte kurz.

Derdekia sah sich um.

Noch war nichts passier und sie hatte auch nicht das Gefühl,
beobachtet zu werden.

Ein guter Grund, sich ein Herz zu fassen und weiterzugehen.

Vielleicht würden sie zurückkehren und ihnen berichten,
dass nichts hier war.

Dass keine Gefahr drohte.

Derdekia schritt langsam weiter.
Ihr Blick heftete sich auf eine geöffnete Tür.

Dahinter erkannte sie ein Wohnzimmer.

Námo folgte ihr und sah sich immer wieder nervös um.
Es konnte ja sein, dass er ein wenig paranoid war - wer
wäre nicht paranoid, wenn er in einem Gebäude wäre,
von dem berichtet wurde, dass Dämonen ihr Unwesen
trieben und Leute gestorben waren? - aber im Gegensatz
zu Derdekia hatte er das Gefühl, dass sie durchaus
beobachtet wurden.
Und das war nicht angenehm.

Derdekia schritt langsam weiter.

Sie achtete aber darauf, sich nicht zu weit von Namó zu
entfernen, denn sie hatte insgeheim wirklich Angst.

Da fühlte sie sich tausendmal sicherer, wenn sie in seiner
Nähe blieb.

Mit leicht zittriger Hand öffnete sie die Tür.

Tief durchatmen, Námo, tief durchatmen, ganz ruhig!,
schoss es dem verängstigten Schutzengel durch den Kopf.
Nein, nein, nein - da ist etwas hinter der Tür, ich weiß es!
Und es wird uns den Kopf abreißen und...
Jetzt reiß dich mal zusammen!, schaffte er es gerade noch,
sich vor der schlimmsten Panik zu schützen. Doch sie würde
schon bald wieder zurückkehren.
Beinahe wünschte er sich, dass etwas sie beim Öffnen dieser
Tür angriff. Dann würde er zwar diesen Wunsch bereuen, aber
es wäre nicht mehr so verdammt STILL!

Ängstlich (auch wenn er das niemals zugegeben hätte) hielt er
sich so nahe an Derdekia, wie er konnte, ohne sich zu auffällig
zu fürchten.
Hoffte er.

Plötzlich prallte Derdekia erschrocken gegen Namó
und packte aus Reflex seine Hand.

Vor ihnen stand wie aus dem Nichts jemand.

Aber in dem selben Moment fiel Derdekia auch auf, wer das
war.

Vor ihnen stand kein Monster, sondern ein braunhaariges, energiegeladen
wirkendes Mädchen, ihre Mitschülerin und Mitglied der "Zickenbande".

>> Serena? <<

Serena blickte die beiden irritiert an.

>> Derdekia? Namó? Was macht ihr denn hier?!
Hat man euch nicht gesagt, dass ihr das Anwesen nicht betreten
dürft, während wir hier aufräumen? <<

Námo hätte nicht einmal unter Folter zugegeben, dass
er bei Serenas Erscheinen erst einmal gerade in die
Luft gesprungen war.
Hoffentlich hatte sie nicht zu sehr auf ihn geachtet!
Wie Derdekia seine Hand nahm, bemerkte er gar nicht.

"Oh, nein, das hat keiner", meinte er schnell, "dann
gehen wir wohl wieder..."

Das unheimliche Gefühl, das ihn schon die ganze Zeit
verfolgte, verschwand durch diese unerwartete
Begegnung nicht. Stattdessen wurde es stärker...

Doch Derdekia gab nicht so schnell nach.

Stattdessen setzte sie ihr Engelslächeln auf und blickte
Serena in die Augen.

>> Habt ihr wirklich so viel Unfug gemacht, dass
es jetzt eine kleine Putzkolonne braucht, um das zu beseitigen? <<
fragte sie und bemerkte dabei einen weiteren Mitschüler, der in dem
Raum umherstreifte und die beiden misstrauisch und feindselig musterte.

Selena runzelte die Stirn und griff an den Rahmen der Tür.

>> Es ist... einiges kaputt gegangen.
Ich habe aber keine Ahung, wie sie das gemacht haben. <<

Trotz seiner inneren Anspannung schoss Námo ein weniger
nervöser Gedanke durch den Kopf.

Oh, was ist das? Sie ist resistent gegen Derdekias
Engelslächeln? Was für eine herzlose Kreatur ist sie?

Seine Mundwinkel zuckten, und gleich fühlte er sich besser,
wenngleich auch das Gefühl unmittelbarer Gefahr nicht
verschwand.

"Ziemlich ausgelassen gefeiert, vielleicht?", schlug er vor.
"Du weißt schon, wild herumtanzen und -laufen, laut singen,
rufen und schreien...so etwas."

Und das klang überhaupt nicht nach der Zusammenfassung
einer misslungenen Dämonenbeschwörung, nein, gar nicht.

Serena sah ihn an.
Sie hatte anscheinend Mühe -oder keine Lust- ihnen
in die Augen zu blicken, tat es jetzt aber.

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen.
>> Ja, wild umherschreien und laufen. Das war...
dabei. Da hast du recht.
Es ging recht hart zu hier.
Einige haben sich immernoch nicht erholt. <<
erklärte sie etwas schwerfällig.

Sie ließ dabei keine einzige Sekunde von Namós Augen ab.

Derdekia runzelte die Stirn und beobachtete ihrerseits Serena,
ohne eine einzige Sekunde von ihr wegzusehen.


>> Euch geht es aber anscheinend gut.
Hattet wohl nicht so eine wilde Nacht. <<

Der starre Blick machte Námo ein wenig unsicherer als zuvor.
Nicht, dass da noch sonderlich viel Spielraum war...

Äußerlich ließ er es sich allerdings so wenig wie möglich
anmerken.

"Ich wäre gerne dabeigewesen", meinte er betont locker. "Das
klingt echt nach einer coolen Party."

Und für kein Geld der Welt hätte er daran teilgenommen.

>> Glaub mir, das ...
hättest du nicht gewollt. <<

Serenas starrer Blick schien sich plötzlich zu lockern und sie blickte
ihn nichtmehr an, als sie das sagte.

>> Und jetzt...
lasst uns einfach aufräumen. <<
meinte sie, als ihr Helfer schließlich näher kam.

Derdekia spannte sich an.

Sie hatte definitiv Angst vor ihm.
Er war nichtmehr er selbst.
So sehr wie auch Serena irgendwie seltsam war, aber
wenigstens nicht so...
düster und angsteinflößend.

Seine feindseligen Blicke machten es da nicht besser.

>> Gibt es hier ein Problem? <<
fragte er fast schon agressiv.

Námo versuchte immer angestrengter, weder Nervosität noch
Angst zu zeigen. Doch es wurde immer schwerer.

"Serena, dein Untergebener muckt auf", witzelte er.
Gleichzeitig sah er ihn seinerseits so böse an, wie er konnte.
Und das war um einiges böser, als man von einem Engel, auch
einem Engel wie ihm, erwarten würde.

Serena spannte sich kurz an und deutete
einen Blick in seine Richtung an.

Letzendlich starrte sie nur den Boden nieder und biss sich auf die Unterlippe.

Ihr Mitschüler sah die beiden feindselig an.

>> Ihr habt hier nichts zu suchen.
Also verschwindet. <<
befahl er sehr direkt und baute sich auf.

>> Serena, du weißt, was du zu tun hast. <<

Serena zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb und war im selben
Moment weg.

Derdekia sah ihr völlig irritiert nach.
Ihr Blick weitete sich, als sie einen Blick auf Serenas Rücken erhaschte.

Sie blickte zu dem Jungen auf.

>> Reltro, kein Grund, gleich auszurasten.
Wir wollten nur sehen, ob wir behilflich sein könnten. <<

Der Angesprochene wandte sich ihr quälend langsam zu.

>> Derdekia... <<

Es war fast wie eine Feststellung.
Als würde er sie gerade erst erkennen.

>> Wir brauchen eure Hilfe nicht.
Du und dein neuer Freund solltet besser JETZT gehen. <<

Derdekia wich mit erhobenen Händen zurück.

>> Ist ja gut.
Wir sind ja schon weg. <<
murrte sie genervt und drehte sich auf dem Absatz um.

"Endlich", murmelte Námo, zu leise, als dass Reltro es hätte
hören können.
Hier ging nichts mit rechtein Dingen zu. Und er zog es wirklich
vor, weiterzuleben...

Nichts wie raus! Fast zog er Derdekia hinter sich her.

Derdekia hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Reltro sah ihnen missmutig nach und verschwand dann wieder
im Wohnzimmer.


Als die beiden aus dem Haus waren, atmete Derdekia erleichtert auf.

Auch Námo atmete dief durch.

"Was war denn das?", fragte er dann.
So etwas hatte er nicht erwartet.

>> Ich habe keine Ahnung! <<

Derdekia blickte irritiert und entsetzt zu dem Haus zurück.

>> Wir haben zwar nicht gesehen, was Lenta uns beschrieben hat.
Aber das Verhalten der beiden hat mich sehr, sehr misstrauisch gemacht.

Und dann noch die klaffende Wunde auf Serenas Rücken, die sie verbirgt.

Da is definitiv etwas faul. <<

"Misstrauisch ist noch untertrieben", murmelte Námo.
"Dieser Reltro war ein ganz kleines bisschen aggressiv,
findest du nicht auch?"

Vorsichtig untertrieben war das, fand er.

"Aber ich habe das Gefühl, was auch immer es ist,
Selena hat es noch nicht komplett erwischt. Ich meine,
teilweise war sie schon ziemlich ... nun ja, seltsam, aber
sie war zwischendurch noch viel seltsamer. Zum Beispiel,
als Reltro aufgetaucht ist. Auf einmal schien sie innerlich
... zusammenzufallen und war auf einmal völlig anders.
Und dann war da auch noch das mit dem Schreien und
dem Weglaufen...
Das klingt doch wirklich ziemlich nach dem, was die
anderen erzählt haben."

Derdekia sah kurz zu ihm und blickte wieder zurück zum
Anwesen wie, um sich wieder an Einzelheiten des Gespräches zu erinnern.


>> Ja, da musste ich wirklich stutzen.

Wenn unser Gefühl uns nicht täuscht, dann kann es sein,
dass Serena und Reltro uns gerade indirekt bestätigt haben,
was Lenta behauptet. <<

Sie seufzte.

>> Dann stellt sich uns aber ein anderes Problem. <<

Ihr Blick glitt über das Haus.
Es wirkte noch düsterer als vorher.
Vielleicht war es sogar wütend über ihr freches Eindringen.

Derdekia schüttelte diesen Gedanken sofort ab.

Wenn sie Leonora und die anderen beschützen wollte, dann durfte sie
sich nicht von den menschlichen Gefühlen manipulieren lassen.

Als sie wieder einen kühlen Kopf erlangt hatte, drehte sie sich zu Námo.

>> Was sollen wir tun, wenn die Gefahr sich uns nicht offen zeigt? <<

Námo zuckte mit den Schultern.

"Ich würde ja sagen, dass wir die Gefahr einfach
aufschrecken können..."

...auch wenn er sich dieses Mal davor ziemlich
fürchtete.
Das musste am Haus liegen...redete er sich
zumindest ein.

"Reinstürmen, Augen zu und durch."

>> Wenn wir sterben, sind wir unseren Schützlingen auch nicht
von großem Wert. <<
erinnerte Derdekia ihn.

Seine Idee war ja ganz gut, aber das Risiko, das dabei entstand
war zu hoch.

>> Im Augenblick werden wir wohl nichts tun können, als
heimlich etwas zu forschen. <<