Der Wald

Estarya ist umrundet von einem riesigen Wald, der sich über das
ganze Land ausstreckt und bis über die Grenzen der nächsten
Nachbarn weiterläuft.

Hier sollte man sich besser nicht verlaufen.

Die zwei Engel kamen mit Leonora auf sicherem Boden im Wald an.

Wenn sie über dem Wald mit ihren wunderschön weiß strahlenden Flügeln
flogen, wären sie zu auffällig.

Derdekia ließ ihre Flügel wieder verschwinden.
Zurück blieb ihre menschliche Erscheinung mit einer nicht verdeckbaren
übermenschlichen Aura.

Námo lief in dem Moment los, in dem seine Füße den Boden berührten.

Er hatte das Gefühl, dass ihn etwas in eine Richtung zog.

Derdekia landete mit Leonora.

Sie war besorgt und etwas überrascht über Námos Anwandlung.

Aber bei weiterem Nachdenken konnte sie ihn verstehen
Wahrscheinlich hätte sie genauso gehandelt.

Dennoch folgte sie ihm so schnell und aufmerksam wie möglich.

Er war in einem Zustand, in dem er schnell die Kontrolle verlieren konnte.

Leonora seufzte und ging schnell hinterher.
Sie musste nunmal auch mit. Der Befehl lag leider in ihren Genen.

Námos Flügel verfingen sich in ein paar Ästen, doch er zog sie
ruckartig heraus, ohne auch nur darauf zu achten, und lief
weiter.

Es zog ihn immer stärker an einen bestimmten Ort.

Derdekia verzog das Gesicht, als Námo sich verfing
und seine Flügek rücksichtslos rausriss.

Doch sie folgte ihm weiterhin kommentarlos.

Jedoch spannte sich etwas in ihr immer stärker zusammen, je
weiter sie gingen.

Sie behielt Leonora akribisch im Auge - und Námo.

Schließlich kamen sie auf eine kleine Lichtung.
In der Mitte lag Genika, gefesselt und bewusstlos.

Sofort stürzte Námo zu ihr.

"Genika!"

Derdekia keuchte erschrocken auf.

Selbst Leonoras Augen weiteten sich überrascht.

Das sah ernst aus.

Derdekia hatte sofort den Drang, ebenfalls loszulassen.

Doch etwas war seltsam daran.

Wieso ließ man einen Schützling offen auf der Wiese liegen?

Es traf sie wie ein Hammerschlag.

Sie ließ einen Arm vor Leonora schnellen, um sie vor jeglichen Gedanken
ans Laufen abzuhalten.

>> Námo! Warte! Da stimmt etwas nicht! <<
rief sie ihm nervös zu,

Doch zu spät: Zwei Schatten sprangen in diesem Augenblick aus dem
Unterholz. Im ersten Moment schien es so, als hätten sie vier Beine,
im nächsten waren es zwei.

Ein Schatten versetzte Leonora einen kräftigen Tritt und riss mit der
gleichen Bewegung Derdekia zu Boden.
Der zweite Schatten stürzte sich auf Námo, der sie bis jetzt noch nicht
bemerkt hatte.

Derdekia bekam automatisch einen Schub und federte vom Boden ab.

Noch halb in der Rolle stieß sie sich in Leonoras Richtung ab und kam vor ihr wieder auf die Beine. Bereit, zuzuschlagen.

Der Angreifer war jedoch bereits einen Schritt weiter.
Noch während sich Derdekia abrollte, war er bereits
wieder in Bewegung. Und als sie sich wieder aufrichtete.
legte sich ein unnatürlich langer und biegsamer Arm um
ihren Hals, während ein zweiter, ebenso seltsamer Arm
ein Schwert in Leonoras Richtung schwang.



Námo wurde von dem Angriff völlig überrascht und breitete
instinktiv seine Flügel aus, was seinen Angreifer für einen
Moment völlig aus dem Konzept brachte.
Scheinbar war ihm noch nie ein Engel untergekommen, der
seine Flügel als Waffe missbrauchte.
Doch schnell fasste er sich wieder und griff erneut an.

Ein weißer, stahlharter Stab lenkte die Schwungrichtung des
Schwertes mit brutaler Kraft zur Seite, sodass es fast aus der Hand
des Angreifers geschleudert wurde.

Den Schwung noch ausnutzend, stieß Derdekia den Stab hinter sich gegen den
Körper des Angreifers.

Leonora schob sich überrascht und erschrocken zugleich von dem Angreifer und
Derdekia weg.
Dann richtete sie sich schnell auf.

Derdekias Angreifer schaffte es bei diesem Angriff sogar, mit den
Augen zu rollen. Er hatte während des Angriffes seinen Körper
verändert, sodass er nur ein wenig nach hinten geschoben wurde,
und war im nächsten Moment verschwunden.

Eine Fliege jagte mit Höchstgeschwindigkeit auf Derdekia zu und
verwandelte sich kurz vor ihr in einen Bären, der auf sie herabsprang.

Derdekia sah den Bären erschrocken an.

Ein Gestaltwandler!

Doch sie reagierte aus Reflex.
Ihre Flügel breiteten sich noch in derselben Sekunde aus und schlugen aus.

Dieser Luftwirbel ließ sie nach hinten fliegen, unter dem Angriff durch.

Das Nächste, was der Angreifer am Kopf spürte, war ein Lichtstrahl mit der Konsistenz
eines Hammerschlags.

Das brachte ihn dann doch ein wenig aus dem Konzept.

Kurzzeitig betäubt, stürzte er zu Boden.



Námo rang währenddessen mit seinem menschenförmigen
Gegner.
Es ging weder vor noch zurück.

Derdekia nutzte die Gelegenheit, sah kurz nach Leonora und rannte dann auf ihren
Gegner zu.

Sie führte eine Handbewegung durch und schlug mit ihrem Stab auf
die Brust des Gegners.

Ein Lichtstrom raste wie eine Tsunamiwelle durch jede Pore des Gestaltwandlers und
machte ihn bewegungsunfähig.

Derdekia musterte den Gegner aufmerksam.

Dann drehte sie sich kurz um, um zu sehen, wo Leonora war und ob
Námo zurecht kam.

Leonora stand immer noch etwas überrumpelt inmitten der Wiese.
Da, wo Derdekia sie haben wollte. Auf keinen Fall am Weglaufen, denn dann war
sie noch leichtere Beute für Jäger.

Sie sah rüber zu Genika.
Die Schützlinge mussten in Sicherheit gebracht werden.

Erst dann konnte sie Námo wirklich eine Hilfe sein.

Sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Námos Gegner hatte jedoch aus dem Augenwinkel gesehen, was mit
seinem Partner geschehen war. Im nächsten Moment rang Námo mit
Luft und geriet mächtig aus dem Gleichgewicht, während eine Schlange
zischend auf Genika zukroch.

Sie war bereit zum Zustoßen, als der Windstoß sie traf wie eine
heranrasende Wand. Einen Moment später traf sie einen Baum und
fiel reglos zu Boden, ohne Genika gebissen zu haben.

Derdekias Puls war schon an der Schmerzensgrenze gewesen, doch
sie atmete erleichtert aus, als die Schlange bewusstlos liegen blieb.


Etwas außer Atem blieb sie kurz stehen und sah Námo an.
Ein beeindrucktes Nicken war ihre stumme Botschaft an ihn.


>> Leo, wir müssen jetzt schnell sein und Genika hier wegschaffen. <<
meinte sie zu der verstummten Schulzicke.

Leo sagte erneut nichts und folgte Derdekia, als sie auf Genika zueilte.

Námo sah ihr Nicken jedoch nicht. Für einen Moment starrte
er an den Baum, an den die Schlange geflogen war, dann
stürzte er zu Genika und versuchte noch einmal zu erkennen,
ob sie verletzt war.

Derdekia und Leonora kamen nun ebenfalls bei ihm an.

>> Sie scheint nicht verletzt zu sein. <<
meinte Derdekia erleichtert.

>> Sie ist völlig bewusstlos. Meinst du, wir können sie aufwecken? <<

Von ihren Worten völlig überrascht, blickte Námo auf.
Er hatte sie gar nicht kommen hören. Er hatte sich gar
nicht mehr daran erinnert, dass sie überhaupt da war!

"Ich...weiß nicht..."

Er hatte im Moment das Gefühl, dass er überhaupt
nichts mehr wusste.

Derdekia kniete sich hin und tastete mit zwei Fingern an Genikas Hals.

Dann legte sie ihr den Kopf auf die Brust und lauschte.

>> Ihr geht es gut.
Aber die Betäubung scheint sehr stark gewesen zu sein.
Wir müssen sie in ein Bett bringen. <<
suggerierte Derdekia und richtete sich wieder auf.

Vorsichtig schob Námo einen Arm unter Genikas Kniekehlen
und den zweiten unter ihre Schultern. So hob er sie dann
vorsichtig hoch.

"Und was machen wir mit denen?", fragte er und deutete
mit dem Kopf dorthin, wo die besiegten Gestaltwandler lagen.

Nun - liegen sollten. Sie waren verschwunden.

Derdekia wandte sich um.

>> Mist! <<

Leonora hob eine Augenbraue.

Ihr Schutzengel konnte fluchen?

Also war sie wohl noch nicht so hoffnungslos.

Derdekia stemmte die Hände in die Hüften.

>> Ich werde demnächst die Jäger kontaktieren.
Allmählich habe ich das Gefühl, dass wir hier in einem dunklen Herd leben.
Quasi wie Schafe in einer Berglöwenhöhle.

Das wird nicht lange so gut gehen. <<

Ihre starke Stimme fiel beim letzten Satz in ein Wispern über.

Einen Moment stand sie still da.

Dann drehte sie sich entschlossen zu Námo und Leonora um.

>> Wir bringen Genika in meine Wohnung.
Ich will, dass sie erst einmal nicht wieder in ihr Zimmer kommt. <<

Námo nickte.

Mit einem prüfenden Blick nach oben stellte er fest,
dass hier genug Platz zum Abheben war, breitete seine
Flügel aus und erhob sich zusammen mit Genika in die Luft.

Derdekia sah ihm schweigend nach.

Dann drehte sie sich zu Leonora um und winkte sie heran.

Leonora verzog das Gesicht.

>> Kann ich nicht laufen? <<

Derdekia hob beide Augenbrauen an.
>> Nach diesem Vorfall? Willst du sterben? <<

Das war auch ihr einziger Kommentar, bevor sie Leonora packte und ebenfalls
abhob.