Die Stadt

Überrascht, aber auch wütend fuhr Námo herum.

Wer war das gewesen?!

Ihm warf sich eine fröhliche Leonora um den Hals.

>> Hallo, kleiner Miesepeter. <<
meinte sie grinsend, während sie ihn energisch umarmte.


Derdekia kam lächelnd hinterher.

Auf einen verwirrten Blick von Genika, zuckte sie nur entschuldigend
mit den Schultern.

Námo stand still wie eine Statue da und ließ die Umarmung
über sich ergehen.
Doch innerlich lächelte er.

Was ihn nicht davon abhielt, ein wenig Wind aufkommen zu
lassen und Derdekias Rock ein wenig in die Höhe zu wehen.

Derdekia drückte den Rock erschrocken wieder nach unten.

Doch die wusste, wer der Frechdachs war, der das getan hatte.

>> Namó! <<
meinte sie halb vorwurfsvoll, halb amüsiert.

Leonora ließ von ihm ab und sah dann zu Genika.
Sie war seit der letzten Nacht wie ausgewechselt.
Denn sie hatte ihr gezeigt, wie wichtig das alles hier war.

Doch dann sah sie Lenta, die sie mit einem undeutbaren Blick ansah.
Jedoch war ein Gefühl ganz eindeutig vertreten: Verwirrung.

Leonora spannte sich an, als wäre sie ein Raubtier, dass sie bereit machte zum
Angriff.


Derdekia sah sie besorgt an.
Sie wusste genau, dass Lenta die Feindin ihrer Gruppe war.
Doch Leonora hatte ihr gesagt, dass sie versuchte, sich zu bessern.
Ob sie das auch einhielt, würde sich nun zeigen.


Die beiden "Feindinnen" sahen sich schweigend an,
jede von ihnen mit einer gewissen Unsicherheit beladen.

Schließlich brach Lenta das unangenehme Schweigen.
>> Warst du gestern bei der Übernachtung?
Ich habe dich nicht gesehen. <<
meinte sie so normal wie möglich.

Leonora schien wirklich Mühe dabei zu haben, ihr genauso normal und
nicht gemein zu antworten.
>> Ich war nicht da... bin vorher gegangen. <<
presste sie ziemlich hölzern hervor.

Lenta sah stirnrunzelnd an ihr vorbei zu irgendwelchen Schülern, die gerade
vorbeigingen.
Beiden war diese Situation ziemlich unangenehm.
Sie merkten, dass sich etwas gravierend verändert hatte und wussten beide nicht,
wie sie damit umgehen sollten.

Dann sah Lenta wieder zu Leonora.
>> Hast du... deine Freundinnen heute schon gesehen? <<
fragte sie vorsichtig.

Leonora wusste zwar nicht, was sie mit dieser Frage bezwecken wollte,
aber sie spürte Derdekias Blick auf sich und musste sich böse Kommentare verkneifen.

>> Nein... <<

"Was ist?", fragte Námo, ganz das unschuldige kleine mürrische
Engelchen, das er nun einmal war.

Doch als er bemerkte, wie sich Leonora und Lenta anstarrten,
verschwand das.
Hoffentlich würde das kein Donnerwetter geben...!

Genika hatte sich, aus gutem Grund, aus dem Schussfeld zrückgezogen.


>> Wieso fragst du mich das eigentlich? <<
fragte Leonora dann.

>> Ich bin mir nicht sicher, was genau letzte Nacht geschehen ist.
Aber es liegt nicht in deinem Interesse. <<

>> Tut es das? <<

Es entstand sofort eine Spannung zwischen beiden.

Doch diesesmal reagierte Lenta rechtzeitig.
Sie war noch völlig geschwächt von der Nacht und hatte keinerlei
Lust auf das nächste Wortgefecht.

>> Tut es.
Man sieht sich. <<
meinte sie, ohne Leonora aufzuklären.

Sie lächelte den anderen kurz zu.

>> Bis später. <<

Dann ging sie.

Námo atmete durch.

Kein Unwetter, kein Vulkanausbruch...
Wenigstens bisher nicht.

Das war doch gut gelaufen!

Leonora sah ihr grimmig hinterher.

>> Was hat sie eigentlich gerade gequasselt? <<

Genika war sich unsicher, ob sie es verraten sollte...

Unauffällig sah sie zu Namó.

Der zuckte mit den Schultern.

Genika sollte selbst entscheiden, ob sie es erzählte oder nicht -
früher oder später würde Leonora es ohnehin mitbekommen.
Er war ihr Schutzengel, nicht ihr Vormund.

Und er hatte keine Ahnung, ob sie es tun sollte oder nicht. Da
konnte sie schön selbst entscheiden.

>> Lenta ist diese Nacht zu uns gekommen.
Sie hatte ziemlich viele Verletzungen. <<


>> Sie ist aus dem Anwesen in die Stadt gelaufen? <<
fragte Leonora irritiert.
Solch seltsame Aktionen sahen ihr ähnlich.


>> Ja, angeblich soll das Haus total besessen sein und....
außer ihr und Calina hat niemand überlebt. <<
meinte Genika etwas unsicher.

Leonora sah sie einen Moment entgeistert an,
dann lächelte sie höhnisch.

>> Ich wusste schon immer, dass die kleine Bauerstochter einen
Knall hat. <<

>> Leo, du weißt doch garnicht, ob sie falsch liegt. <<
mischte Derdekia sich ein.
Ihr gefiel der Ton ihres Schützlings nicht.

>> Ich habe gestern gespürt, dass etwas Dunkles in diesem Haus vor
sich geht.
Deshalb... wollte ich dich auch so schnell wie möglich aus dem Anwesen
haben. Erinnerst du dich noch daran? <<

Leonora sah etwas grimmig zum Schloss.
>> Ja, aber ihr könnt mir doch nicht ernsthaft sagen, dass meine Freundinnen
alle tot sind?! <<
meinte Leonora aufgebracht.
Man merkte, dass sie kurz vor einem Wutanfall stand.

>> Nein, das habe ich doch nicht gesagt.
Nur könnte an Lentas Geschichte etwas dran sein. <<
versuchte Derdekia, sie zu beruhigen.

>> Vielleicht hat sie einiges im Schockzustand erzählt, dass
garnicht passiert ist.
Das.. ist nicht unüblich bei sowas. <<
meinte Genika.

>> Das werden wir ja sehen!
Ich gehe meine Freundinnen auf jeden Fall suchen,
dann werden wir ja sehen, wie tot sie wirklich sind! <<
wütend stampfte Leonora den Pfad zur Schule hoch.

>> Leonora! <<
rief Derdekia ihr hinterher, doch sie blieb nicht stehen.


Derdekia seufzte.
Es wäre sinnlos gewesen, Leonora hinterher zu laufen.

Námo hob eine Augenbraue und sah ihr nach.

"Da ist jemand sehr entschlossen", stellte er fest.

Genika seufzte.

>> Leonora ist einfach ein Sturkopf.
Aber ich kann verstehen, dass sie so reagiert.
Immerhin behauptet jemand, ihre Freundinnen seien
gestorben.
Jemand wie Leonora verliert da schnell die Beherrschung. <<

>> Das stimmt.
Ich hoffe nur, sie macht nichts, was sie später bereut. <<
meinte Derdekia.

Die Drei gingen langsam hoch zur Schule.

"Das hoffen wir alle", stimmte Námo ihr zu.

Er seufzte.
Da war doch etwas ziemlich schnell ziemlich
kompliziert geworden...

Sie traten in die Schule ein.

Es sah aus wie ein Schloss und doch hatte es Schulakzente, die
zeigten, worin sie sich befanden.

Und es waren viele viele Schüler da.

Námo sah sich um und musterte die Schüler.
Ja, es sah aus, als wären ein paar Nette dabei,
aber auch einige weniger Nette...auf die würde
er ein Auge haben müssen.



Kaen stand an eine Wand gelehnt und beobachtete
das Treiben.
Ihre Stimmen rauschten in seinen Ohren, fast so,
wie die Wellen des Meeres klingen mussten...des
Meeres...
Und schon hatte er sich in einem Tagtraum verloren.