Der rote Gemeinschaftsraum

Der rote Gemeinschaftsraum verdankt seinen Namen dem
Möbiliar, der ihm innewohnt.

Denn es hat meistens rote Nuancen oder Muster.

Mit einem schönen Kamin und vielen Sofas ist dieser Gemeinschaftsraum
eine sehr gemütliche Alternative.

Derdekia und Námo kamen kaum um die Ecke, da hörten
sie schon die lautstarken Stimmen von Leonora und Genika.

>> Du bist unglaublich verletzend, Leo! <<

Das war Genika. Sie klang sehr weinerlich.

>> Verletzend?! Du bist ein kleines Weichei!
Das ist hier das Problem! <<
tönte Leonora sofort wenig einfühlsam zurück.

Derdekia sah verwundert zum Gemeinschaftsraum.

Sie ahnte Böses.

Námo lief bereits voraus. Seine Miene kündigte ein
kleineres Gewitter an.

Konnten sie ihre Schützlinge nicht einmal alleine
lassen?

Vielleicht sollte er seine schlechte Laune nicht an
ihnen auslassen, aber...
Ach, verdammt! Er war genervt und sie konnten das
ruhig sehen!

Derdekia folgte ihm.

Was bloß der Grund für diesen lauten Streit war?

Als sie im Gemeinschaftsraum ankamen, setzten
Genika und Leonora ihren Streit gerade fort.

Sie standen an einem Tisch, sich gegenüber und warfen
sich drohende Blicke zu, während die Worte nur so durch
die Luft schnitten.

Leonora hatte sich bedrohlich vor Genika aufgebaut, die jedoch
ihrerseits nicht nachzugeben schien, wobei man ihr doch
eine gewisse Unsicherheit ansah.

>> Denkst du, mir macht das ganze Spaß?! <<
knurrte Leonora.
Ihre Augen funkelten agressiv.

Genikas Wangen waren schon rot gefärbt vor lauter Aufregung.

>> Denkst du etwa, mir?! Aber ich sehe es nicht ein, dass wir da unten
sterben! <<

>> Dann sterben wir hier oben!! <<

"Worum geht es hier?", unterbrach Námo die beiden mit lauter Stimme.
Man konnte deutlich hören, dass er weder sonderlich gut gelaunt noch
geduldig war.

Was wollten sie mit diesem Streit überhaupt erreichen?

Genika zuckte wie von einer Tarantel gestochen zusammen und
fuhr in Námos Richtung um.

Sofort ergriff Verlegenheit von ihr Besitz und sie traute sich nicht,
Námo oder Derdekia in die Augen zu blicken. Und verstummte.


Leonora dagegen blickte Námo wütend an.

Dann schien ihr Ärger etwas zu verpuffen und blickte wieder zu Genika.

>> Dein ehrenwerter Schützling sieht die Notwendigkeit nicht, in
ein verfluchtes Haus zu steigen, um die Gefahr auszuschalten.
Sie viel lieber in ihrem Zimmerchen sitzen, Teezeit mit ihren besten Freunden,
den Teddys spielen und auf ihren Tod warten. <<
erklärte sie ungerührt.

Genika sah sie empört an.
>> Teddys?! Unterstell mir nicht, kindisch zu sein!
Ich bin eben nur vorsichtig! <<
begehrte sie wieder auf.

>> Und naiv! <<
schnitt Leonora ihr sofort ins Wort.

"Und intelligent genug, nicht in ein verfluchtes Haus
gehen zu wollen", fügte Námo hinzu und sah Leonora
ebenso wütend an wie sie kurz zuvor ihn.

Ja, eindeutig sehr schlechte Laune. Würden seine
Flügel mit seiner Laune die Farbe wechseln, wären sie
schwarz geworden.

"Ihr würdet sowieso nicht dort hingehen - es ist
immerhin unsere Aufgabe, euch zu beschützen, nicht,
euch in Gefahr zu bringen!"

>> Laut Genika ist es sogar dumm, dass ihr in dieses Haus geht!
Was bitte sollen wir machen, wenn nicht herausfinden, was
da geschehen ist?
Abwarten und Tee trinken?! <<


>> Sich nciht da Einmischen!
Ich meine.. es hat uns doch garnicht angegriffen! <<
verteidigte Genika sich.

>> Regt euch ab! <<
schnitt Derdekias scharfer Befehl durch den Raum.

Leonora und Genika verstummten verwirrt und sahen zu Derdekia.

Sie sah wütend aus.
Etwas, das selten an ihr zu beobachten war.
Doch dann lächelte sie wieder zufrieden.

>> Geht doch. <<

Námos schlechte Laune wurde durch ihre Reaktion
effektiv verdrängt - zuerst durch Überraschung und
Schock, dann durch Belustigung.

Ein kleiner Windstoß brachte ihre Frisur durcheinander.

"Du scheinst ja ziemlich durch den Wind zu sein, dass
du dich so aufregst", stellte er dann unschuldig grinsend
fest, während er sein Werk betrachtete.

Derdekia verzog das Gesicht, während sie versuchte,
ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen.

>> Námo, wir bilden eine gemeinsame Front!
Du sollst mich nicht wegpusten, wenn wir zusammen
versuchen, die zwei zu erziehen! <<
schimpfte sie halbherzig.

Nun stand Verwirrung in den Gesichtern von Leonora und Genika.

"Ach so. Natürlich."

Námo nickte langsam.

Und pustete Leonoras und Genikas Haare durch.

Beide Mädchen schrien erschrocken auf.

Derdekia legte ihre Hand auf ihr Gesicht und seufzte.

>> So.. habe ich das nicht gemeint. <<


>> Was soll denn das?!
Weißt du, wieviel Mühe es kostet so ordentliche Haare zu haben?! <<
schimpfte Leonora. Dabei überschlug ihre Stimme sich fast vor Ärger.

Námo zuckte mit den Schultern.

"Ich kann es mir anhand deiner Reaktion recht gut
vorstellen, nehme ich an."

Dann wandte er sich Derdekia zu.

"Du hast es nicht so gemeint...aber gib es zu, du
magst es."

Derdekia hatte ihre undruchdringliche Maske aufgesetzt.

>> Im Augenblick kann und werde ich es nicht kommentieren,
aber es hatte einen akzeptablen Effekt. <<
meinte sie ruhig, aber ein kleines verstohlenes Anzeichen für
ein Lächeln war dahinter versteckt.


>> Akzeptabel?!
Er macht sich doch nur über uns lustig! <<

"Auf eine akzeptable Art und Weise, wie ihr
gerade gehört habt."

Námo war ziemlich zufrieden mit sich selbst.
Er hatte es geschafft, Derdekia fast zum
Lächeln zu bringen. Mit einem Streich!

Leonora schnaubte bockig.

Derdekia lächelte.
Ihr Schützling war wirklich eine Herausforderung.

>> Also, um die Sache jetzt auf den Punkt zu bringen.
Genika will nicht, dass wir etwas in der Sache unternehmen und
du hast versucht, sie umzustimmen, auf deine Art und Weise.
Verstehe ich das richtig? <<

Leonora nickte eifrig, Genika etwas unsicher.

>> Vor war hast du denn Angst, Genika? <<

Genika wurde wieder rot.

>> A-also...ich, ich weiß nicht so recht.
Nachdem ich Lenta gesehen habe... wie sie da so traumatisiert saß.
Garnicht sie selbst.
Da habe ich Angst gekriegt.
Was einen Menschen so sehr erschüttern kann...
Ich meine... ich habe Angst, dass euch und uns soetwas passiert.
Und es noch schlimmer ausgeht. <<

Námo grinste zuversichtlich.

"Keine Sorge - uns wird so etwas nicht passieren.
Wir sind vorsichtig."

Und wenn es uns erwischt, dann sind wir tot, nicht
traumatisiert, fügte er in Gedanken hinzu, sagte es
aber nicht.

Genika schien nicht ganz überzeugt zu sein,
aber sie sagte nichts mehr.

Leonora sah sie kurz triumphierend an und wandte sich
Derdekia und Námo zu.

>> Habt ihr etwas in dem Haus rausfinden können?
Dass Lenta Recht hatte. <<

"Also...einen direkten Beweis haben wir nicht gefunden",
musste Námo zugeben.
"Aber es ist so einiges passiert, was ziemlich verdächtig
wirkt."

Leonora und Genika wurden hellhörig.

>> Was meinst du damit? <<
wollte Leonora wissen.

>> Deine Freundin, Serena.
Ist sie heute in der Schule gewesen? <<
fragte Derdekia, ohne sie aufzuklären.

Leonora runzelte die Stirn.
>> Nein, die anderen meinten, sie wäre krank.
Zu viel getrunken oder sowas. <<
erklärte sie, verwirrt von Derdekias plötzlichem Themenwechsel.

Genika war ebenfalls irritiert.
Wie kamen sie auf Serena?
Das war dieser Energiebündel aus der Zickenclique, der unglaublich
frech und direkt sein konnte.

Aber soweit sie es wusste, hatte Serena niemals auch nur ein Glas Alkohol angerührt.

Da fiel es ihr auf und gleichzeitig auch Leonora.

>> Sie trinkt garnicht. Dann wäre es das erste Mal gewesen in dieser Nacht. <<
folgerte Leonora überrascht.

Derdekia nickte.
>> Sie ist garnicht krank.
Wir haben sie in eben jenem berüchtigten Anwesen angetroffen.
Sie war gerade dabei "aufzuräumen". <<
erzählte Derdekia und betonte das letzte Wort nicht ohne Grund.

"Von dem ganzen wilden Herumlaufen und -schreien, wie sie uns
erzählt hat", fügte Námo hinzu.
"Außerdem hat sie scheinbar Stimmungsschwankungen - von
eiskalt und abweisend zu verängstigt und eingeschüchtert. Ach ja,
und eine nette kleine Wunde am Rücken."

Das war die Kurzzusammenfassung.

Leonora hatte Mühe, aus den ersten beiden Informationen
etwas Sinnvolles zu ziehen, doch die dritte eröffnette ihr alles.

>> Heißt das...
Lenta hatte Recht und da ist tatsächlich etwas Schreckliches passiert? <<

>> Das vermuten wir zumindest.
Genau sagen lässt es sich ohne einen unwiderlegbaren Beweis nicht.
Aber Serena könnte besessen sein, wenn auch nicht zur Gänze.
Die Wunde auf dem Rücken.. die könnte von eben jener Nacht stammen.
Sie sah sehr frisch aus. <<

Leonora überlegte.
Diese Eröffnung war entsetzlich.

Ihre Freundin war gefangen in den Händen des Dunkeln und sie
konnte nichts tun?
Nein, sie musste etwas unternehmen!

Námo musterte sie misstrauisch.

"Bitte sage mir, dass du nicht vorhast, dich in tiefster Nacht
in dieses Haus zu schleichen, um herauszufinden, was da
vor sich geht", meinte er. "Es sieht einfach nicht gut auf dem
Zeugnis eines Schutzengels aus, wenn er seinen Schützling
nicht einmal vor sich selbst retten konnte. Und das willst du
Derdekia doch nicht antun, oder?"

Leonora sah ihn stirnrunzelnd und abschätzig an.

>> Als ob ich so dumm wäre, einfach so in das Maul
unseres Feindes zu laufen! <<

Sie sah kurz zu Derdekia, die jedoch nicht in ihre
Richtung, sondern nachdenklich aus dem Fenster blickte.

Wie sie Derdekia bewunderte.
Ohne irgendetwas zu tun, selbst, indem sie nur aus dem Fenster
starrte, war sie mehr als faszinierend und imposant.

Wohnte das allen Engeln inne?

Sie sah wieder zu Námo.

Irgendwie nicht...
dachte sie mit Verbitterung, als sie sein freches Gesicht anblickte.

Sie seufzte.

>> Wir können meine Freundin da aber nicht zurücklassen. <<
wandte sie ein.

"Wir können aber auch nicht völlig planlos reinstürmen
und uns wie Idioten verhalten", konterte Námo. Nach
kurzem Zögern fügte er noch hinzu: "Doch, wir können
es, aber ich glaube, du willst, dass wir deine Freundin
befreien, nicht, dass wir ihr Gesellschaft leisten."

Er ärgerte sich ein wenig, dass sich Derdekia aus dem
Konflikt heraushielt. War er seit neuestem auch für ihren
Schützling verantwortlich?

>> Wer hätte das gedacht? <<
zischte Leonora.

Behandelte er sie hier gerade etwa wie eine
minderbemittelte Schülerin?

Dieser überhebliche Brocken von Taubenmutant!!

Derdekia sah sie wieder an.

>> Jetzt breuhig dich doch.
Wir werden deiner Freundin helfen.
Aber Streit wird uns nicht weiter bringen! <<

>> Diejenigen, die wir im Auge behalten müssen, sind
die Personen, die sich gestern im Anwesen aufgehalten haben. <<

Sie sah Leonora eindringlich an.
>> Also auch deine Freundinnen. <<

Leonora verzog missmutig die Lippen und verschränkte ihre Arme.

>> Na gut. Das werde dann wohl ich übernehmen. <<

>> Aber! <<
wandte Derdekia ein, bevor Leonora noch etwas sagen konnte.

>> Geh nicht mit ihnen allein in ein abgelegens Gebiet, hörst du? <<

Leonora wollte schon einen zynischen Kommentar abgeben.

>> Es gefällt mir nicht, das zu sagen.
Aber so wie es aussieht, sind sie im Augenblick eine Bedrohung
für alle.
Wenn nicht sogar Feinde. <<

Endlich, dachte sich Námo unwillkürlich. Da konnte er Leonora
ja wieder links liegen lassen und sich um seinen eigenen Schützling
kümmern...

Er wandte sich Genika zu und ignorierte das Mädchen, mit dem er
soeben noch diskutiert hatte.

"Muss ich mir bei dir Sorgen um irgendwelche Alleingänge machen?",
fragte er. Doch er nahm an, dass es nicht nötig sein würde - er
vertraute darauf, dass Genika wesentlich vernünftiger war als diese
verzogene Zicke, die sich Derdekias Schützling schimpfte.
Wie hielt Derdekia das nur aus?

Genika sah ihn unsicher an und schüttelte sofort den Kopf.

>> Nein, ich nicht.
Ich... würde nicht einen Moment überleben. <<
fügte sie kleinlaut hinzu.

Derdekia sah sie kurz an, bevor sie sich wieder Leonora zuwandte,
die diesen Kommentar ebenfalls nicht überhört hatte.

Námo wusste nicht genau, ob er sich freuen sollte, dass
Genika somit sicher war, oder ihr Selbstvertrauen
aufbauen musste.
Letztendlich entschied er sich für etwas dazwischen.

"Da hast du Recht. Aber das liegt nicht daran, dass du zu
untalentiert bist - ich finde, du bist großartig. Es ist nur
einfach viel zu gefährlich."

Hoffentlich hatte er damit ihr Selbstvertrauen nicht
abgebaut.

Genika lächelte leicht und wurde etwas rot.

Es hatte anscheind durchaus gewirkt.

Derdekia konnte sich schon denken, wieso.

Genika war offensichtlich Hals über Kopf in
Námo verliebt.
Hoffentlich würde es den beiden nicht irgendwann Probleme bereiten.

>> Du ... hast Recht. <<