Die Medietra-Wälder

Die Wolken hatten sich unheilvoll am Himmel zusammengeballt.

Wie eine Wand zu einer dunklen Welt, die nur darauf wartete, auf sie hinabzustürzen,
schwebten sie über ihnen.


Tyrinia sah zu den Gipfeln.

Dort lag ihr Ziel.
Sie würden es so schnell wie möglich erreichen und dieser Hölle ein Ende setzen.


Selin zuckte zusammen und drehte sich mit einem angenervt fragenden Blick zu Nekir um,
während sie weiterging.

Riyad war nicht wohl bei dieser Sache.
Diese Sache würde noch übel enden...




Nekir blickte sie an wie das unschuldigste
kleine Wölfchen der Welt.

Selin sah Nekir warnend an.

Dieser Kerl würde sie noch um den Verstand bringen, der bei einer
Furie sowieso ein zerbrechliches Gut war!


Nach einiger Zeit des Wanderns - sie drangen immer tiefer in die Gebirge ein
und stiegen immer höher auf - sahen sie nurnoch Gebirgsspitzen und weite Kluften,
die den Horizont beschränkten.

Auf einem hohen Gebirgszug, der nun rechts vor ihnen war, erkannte man einen
einsamen Holzstab auf einem schmalen Pfad.

>> Ha! Da haben wir es! <<
meinte Tyrinia zufrieden und deutete auf den Stab.

Selin machte die Augen schmal.
Sie erkannte, dass der Stab schön geschnitzt war.

Riyad hob die Augenbrauen.

"Was haben wir da?", fragte er.

Nicht jeder konnte ihre Gedanken lesen und so erraten, was sie meinte.




Nekir trottete zum Stab hinüber und schnupperte daran.

Dann markierte er ihn.

Tyrinia beobachtete Nekir dabei und schüttelte angewidert den Kopf.

So ein Streuner!

Dann drang Riyads Frage durch.

>> Ich habe gehört, der Stab markiert den Weg zum Tempel. <<

Selin seufzte.
Jetzt hatte jemand anders die Markierung markiert...

Riyad blickte umher.

Hier war also der Weg zum Tempel...
Er versuchte, ihn zu sehen.

Oder war es der, auf dem sie waren?

>> Und wo bitte ist dieser verdammte Tempel? <<
fragte Selina angenervt, als sie bei dem Stab standen und
auf einen Pfad blickten der bei einer Kluft endete.


Tyrinia lächelte ein verkrampftes Lächeln.

>> Sie haben es versiegelt, diese...
Hech, als könne es auch einfach werden! <<

Sie sah den Stab an und dann den Pfad und überlegte.

Selin strich sich durch das Haar.
Rätsel?

Im Rätseln war sie eine absolute Niete.
Sie war eine Furie - gottverdammt! - und keine Forscherin!

Ein Siegel also? Nun, das erklärte den deutlichen Mangel eines Weges,
stellte Riyad gedanklich fest.

Zuallererst versuchte er, das Siegel zu erkennen.

Nur dummerweise war das nie eine seiner Stärken gewesen - es war
einfach zu selten aufgetreten.




Nekir setzte sich neben Selin.

Rätsel, das war nicht sein Bereich.

Tyrinia hockte sich vor den Stab.


Es waren Hyroglyphen und seltsame Symbole.

Dieses Unterrichtsfach hatte sie niemals belegt!

Zoltan hatte das natürlich in freudigster Schadenfreude geplant.

Wie sie diesen Lehrer verachtete.

Angenervt seufzte sie und versuchte, sich irgendeinen Sinn
zusammenzureimen.

>> Irgendeine Idee? <<
fragte sie die Gruppe, wobei sie sich da eher an Riyad wandte als
an die zwei oberschlauen Rätseltanten.

Die Rätseltanten saßen etwas weiter hinten.

>> Denen muss wirklich langweilig sein, wenn sie solche bescheuerten
Rätsel aufstellen. <<
Sie stellte sich einen Haufen alter Männer in Priestergarnitur vor, die Tee tranken und sich
fasziniert gefallene Blätter nach Farben sortierten.

Was für ein schreckliches Gesindel!

"Ich habe keine Ahnung..."

Doch trotz dieser Aussage kam Riyad ein wenig näher
und versuchte nun auch, einen Hinweis zur Bedienung
in dem Gekritzel zu erkennen.

Tyrinia sah sich den Stab als Ganzes noch einmal an.


>> Er ist in verschiedene Abschnitte unterteilt. <<
fiel ihr auf.

Sie deutete auf die quer verlaufenden, eingeritzten Linien in dem massiven
Holz.

>> Und die Zeichen sind in jedem Abschnitt anders. <<


>> Dann werdet ihr wohl pro Abschnitt auf etwas anderes achten müssen. <<
kam der hilfreiche Hinweis von der weiblichen Klatschtante.

>> Vielen Dank. Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen.
Und wir alle werden das hier lösen.

Denkt ja nicht, dass ihr zwei eure Dummheit als Ausrede zum Faulsein ausnutzen könnt. << meinte Tyrinia bissig.

>> Hast du mich gerade dumm genannt, eingebildete Schlange?! <<
fuhr Selin sie wütend an.

>> In der Tat habe ich das zurecht, wenn du noch nachfragen musst. <<
meinte Tyrinia mit einem "freundlichen" Lächeln.

>> Wenn ich mit dir fertig bin, Dämonenabschaum, dann wirst du deinen
Namen nicht einmal schreiben können. <<
knurrte Selin und stand drohend auf.

"Geht zum Streiten in den Kindergarten, zu euren Gleichaltrigen",
kommentierte Riyad abgelenkt, während er die Zeichen musterte.



Nekir brachte eine erstickte Mischung aus Schnaufen und Jaulen
hervor, die so etwas wie ein Lachen ausdrücken konnte.

War ihm bewusst, was er da gesagt hatte - und zu wem?

Tyrinia hob eine Augenbraue und wandte sich Riyad langsam zu.

>> Was hast du gerade gesagt? <<
meinte sie in einer mörderischen Tonlosigkeit.


>> Er hat uns wohl mit Kindergartenkindern verglichen. <<

Selins Blick richtete sich ebenfalls auf Riyad.

Das würde er büßen, wenn er nicht schnellstmöglich den Schwanz einzog.

Riyad spürte die drohende Gefahr und versuchte, herauszufinden,
woher sie kam.

Da erinnerte er sich daran, was er vor wenigen Sekunden gesagt
hatte. Und zu wem.

Das ist einer von den Momenten, in denen ein einfaches 'ups' nicht
mehr ausreichen...

Er versuchte, nun, das sein Leben verwirkt war, noch das Beste
draus zu machen, und rollte die Augen.

"Wenn ihr euch Beleidigungen zuwerfen wollt, könnt ihr das gerne
machen - aber bitte weit weg von den Leuten, gerade versuchen,
diese verdammte Mission zum Abschluss zu bringen."

Selin atmete tief ein.

Ihre Zellen wollten sich unbedingt wandeln, aber sie hielt es mit aller
Mühe zurück.

Denn danach konnte sie für nichts mehr garantieren.
Auch nicht, dass Riyad sein loses Mundwerk überlebte.

Tyrinia sah Riyad kalt an.

>> Ich wüsste nicht, inwieweit dich unser Streitgespräch stören sollte?

Wenn du dich wirklich so konzentrierst, sollten wir doch keine Ablenkung für
dich sein, Riyad.

Wir sind in unserem Streitgespräch weiter gekommen als ohne.

Aber ich nehme deine Meinung gerne zur Kenntnis. <<

Das hieß auf tyrinnisch: Du wirst es noch büßen. Und ich suche mir eine
gute Situation dafür aus.

Aber das konnte Riyad ja nicht wissen.

>> Hast du denn schon etwas rausgefunden, du erwachsenes Genie? <<

Selin ließ ein leises Zischen raus.
Sie hasste es, wenn ein sich aufheizendes Streitgespräch einfach so
niedergeworfen wurde.

Das war wie das Erregen ohne einen Höhepunkt.

Selin runzelte die Stirn.

Wieso habe ich denn jetzt an "sowas" gedacht?!

Wortlos griff Riyad nach einem der Abschnitte und drehte ihn,
bis er einrastete.

Dann zog er einen Dolch aus der Tasche, schnitt sich in den
linken Daumen und schmierte das Blut auf einen zweiten
Abschnitt.

Beide leuchteten in einem schwachen Licht auf.

Die beiden verstummten und sahen ihn überrascht an.

>> Du hast ja tatsächlich etwas im Kopf außer Möchtegern-Schlauheiten. <<
meinte Tyrinia zufrieden.


Die Felswand löste sich auf und gab eine steinerne Treppe frei.

"Wie schön es ist, geschätzt zu werden",
murmelte Riyad beinahe unhörbar.

Wäre er nicht in dieser Gruppe gewesen, wäre es
äußerst schwer gewesen, das freiwillig gegebene
Blut einer guten Person zu finden.

Aber das würde er ihnen nicht auf die Nase binden.

"Ladies first", wandte er sich dann an die beiden.



Hinter ihm schnaufte Nekir erneut amüsiert.

Ladies? Die waren nicht in solchen Gruppen wie der
ihren.

Tyrinia lächelte amüsiert.

Obwohl sie es nicht zeigte, hatte sie etwas Selbstironie und dachte
genau dasselbe wie Nekir.


Selin sagte dazu nichts und ging vor.

Sie wollte so schnell wie möglich fertig werden.

Tyrinia folgte ihr.

Riyad war es relativ egal, dass sie beide keine Ladys waren.

Hauptsache, sie hatten keine Zeit, sich die Symbole auf dem
Stab genauer anzusehen und zu erkennen, was für Blut genau
benötigt wurde.



Nekir lief den beiden Nicht-Ladies hinterher.

Selin duckte sich auf einmal und blieb stehen.

Das hieß wohl, dass sie angekommen waren und es nun galt,
vorsichtig zu sein.

Tyrinia kam bei ihr an und sah über die Felswand vor ihnen.

Sie verzog gequält das Gesicht.
Der Tempel war eine Anlage und kein bloßer Tempel!

Nekir schloss auf und hatte keine Ahnung, worum es ging.

Nur, dass Selin und Tyrinia nicht begeistert waren.




Riyad stieß ebenfalls zu ihnen.

Hatte Zoltan denn keine Karte des TEMPELS beilegen können?

Tyrinia sah sich um.

>> Diesen Stab werden sie wohl kaum draußen liegen haben.

Entweder einer der Priester trägt ihn bei sich oder er ist sicher
aufgehoben. <<

Selin seufzte.

>> Das heißt, es könnte hier überall sein! <<

"Vorschläge, wie wir ihn finden können?",
fragte Riyad in die Runde.

Er hatte sie hineingebracht, jetzt konnten sie ruhig auch
die Arbeit tun.

>> Einer könnte sie ablenken, aber dann hätten die anderen nur wenig Zeit, um den
Stab zu finden. <<
überlegte Tyrinia.


>> Nun, wir könnten versuchen, näher an den Tempel zu kommen. <<
meinte Selin.

"Wir könnten natürlich auch als unschuldige Pilger kommen und
uns herumführen lassen", bemerkte Riyad.

Wieso kamen sie nie auf die einfachen Ideen?

>> Verdammt, warum kommen wir nicht auf solche Ideen? <<
meinte Tyrinia.

>> Das ist eine gute Idee. <<
stimmte Selin zu.

>> Wenn etwas missglückt, dann gibt es immernoch die altbewährte
Methode. <<
meinte Tyrinia mit einem verheißungsvollen Lächeln.

"Gut - also, wir sind Pilger, wir sind gut und wir suchen Erleuchtung.
Und wir haben unseren weißen Wolfshund mitgenommen, weil er
uns als Zeichen der Götter gesandt wurde", erfand Riyad schnell
eine Geschichte für sie alle.

Nekir sah ihn vorwurfsvoll an.

"Menschlich gehst du niemals als gut durch", teilte Riyad ihm lediglich mit.

>> Wo er Recht hat, hat er Recht. <<
meinte Selin.

>> Gut. Woher kommen wir? Aus dem Norden wäre schon ganz gut.
Nehmen wir... Kapuda.
Da waren die meisten von uns schon einmal.

Sind wir überhaupt Freunde oder nur Pilgerer, die sich auf dem Weg getroffen haben?
Dann müssen wir uns verschiedene Orte nehmen. <<
überlegte Tyrinia.

"Wir können alle aus Kapuda kommen, uns aber vorher nur flüchtig
gekannt haben", schlug Riyad vor. "Freund eines Freundes eines
Bekannten, so etwas. Dann haben wir uns umgehört, ob jemand
aus der Gegend auch pilgern möchte, und so haben wir uns dann
zusammengefunden."