Eingangshof

Zuerst wollte Ben ihn aufheben, doch dann erinnerte er sich an seine Last.
Rinoa war auch so schwer genug...

Er konnte ja später zurückkehren, immerhin wollte er nicht der Grund für
das Verschwinden eines wichtigen Gegenstandes sein.
Zum Glück gab es, soweit er wusste, in Estarya keine Diebstähle.

Der Anhänger blieb weiterhin funkelnd auf dem Boden.

Genika, Namó und Derdekia kamen im Einganshof an.
Gerade hier herrschte das größte Treiben.


Mitten in dem Gewimmel von Menschen konnte Genika
Calina ausmachen.
Sie ging energischen Schrittes durch die Masse und war
eindeutig auf dem Weg zur Schule.

Calinas Gangart erinnerte Genika stets an ein Raubtier.
Sie musste gestehen, dass sie Angst vor der wohlhabenden
Blondine hatte, die ihre psychische Zerstörungskraft oft genug
unter Beweis gestellt hatte.

Vorsichtig also, immer vermeidend, dass sie mit Calina in Augenkontakt
trat, musterte Genika sie.

Wenn Lenta Recht hatte, und Calina wirklich die Einzige war, die das
Anwesen lebend mit ihr verlassen hatte und wenn die Erzählung stimmte,
und Calina an bestimmten Stellen Schnittwunden haben müsste oder
Abdrücke, dann sollte Genika das erkennen können.

Sie musste zugeben, dass man Calina rein garnichts ansah.
Die Zickengruppen waren bekannt für ihr Talent, alles perfekt verdecken
zu können.

Aber sie konnte unmöglich tiefe Schnittwunden verdecken.

Lenta hatte etwas von einer Kampfwunde an der Innenseite des Unterarms erzählt..
Genika kniff die Augen etwas zusammen, um es von Weitem besser erkennen
zu können.
Sie sah rein garnichts an Calinas Unterarm.

Doch den zweiten konnte sie durch Calinas Position nicht erkennen.
Es blieb also noch eine Chance, dass Lentas Geschichte wahr war.

Calina war gerade an den Treppen angekommen, als Genika
Leonora aus der Menschenmenge auftauchen sah.

Calina hatte sie anscheinend ebenfalls gesehen und blieb stehen.

Um Leonora zu umarmen, drehte sie sich etwas um und -Genika
biss kurz die Zähne zusammen- da sah sie eine schwach rötliche
Linie entlang ihres Unterarms.

Námo bemerkte diese Reaktion.

"Was ist los?", fragte er Genika.
Er hatte es im Moment nicht als ganz so
wichtig empfunden, Lentas Geschichte
zu überprüfen, also hatte er nicht Calinas
Arme beobachtet.

>> Da drüben ist Calina.
Die zweite Überlebende laut Lenta.

Und ich...
ich glaube, Lenta hat wirklich nicht geträumt.
Sie hat uns doch im Detail erzählt, was passiert ist...
und laut ihrer Geschichte müsste Calina Verletzungen an
bestimmten Stellen haben.<<
Genika schwieg kurz.

Sie wollte es nicht glauben.
Es gab bestimmt andere Erklärungen...

>> Die hat sie wirklich. <<

Vieles schoss Námo gleichzeitig durch den Kopf -
ein Monster, vielleicht sogar mehrere, waren in der
Gegend und weder Derdekia noch er hatten etwas
davon bemerkt. Schüler waren gestorben und
besessen worden. Niemand hatte etwas bemerkt.
Womöglich schwebten sie gerade in diesem Moment
in Lebensgefahr und bemerkten nicht einmal etwas
davon. War es möglich, dass das Monster das
Gebäude wechselte und hierher kam? Konnte es
sich im Licht fortbewegen? Was war es überhaupt?

Doch alles, was er dazu herausbrachte, war: "Oh."

>> Ich werde mir das Anwesen später ansehen. <<
meinte Derdekia nachdenklich.

Sie würde nicht zulassen, dass etwas da rauskam.

>> Wir müssen Lenta und Calina im Auge behalten.
Wenn es stimmt, dass sie die einzigen Überlebenden eines
besessenen Hauses sind, kann es sein, dass das Etwas
die beiden solange verfolgen wird, bis auch sie tot sind.
..
oder sie sind besessen ohne es zu wissen. <<
meinte sie.

Genika erschauderte bei dem Gedanken.
>> Wie kann man besessen sein, ohne es zu wissen? <<

>> Es ist wie mit dem Träumen.
Man könnte sagen, wenn die Dunkelheit in dir die Kontrolle über
dich an sich nimmt, bist du auf einmal weg...
und irgendwann wachst du auf und kannst dich nicht erinnern, was
passiert ist, als du weg warst. <<
erklärte Derdekia Genika dann.

"Soll ich aufpassen, während du nachsiehst, ob alles
in Ordnung ist?", fragte Námo Derdekia. "Ich würde
dich ja begleiten, aber jemand muss bei unseren
Schützlingen bleiben."

>> Können wir nicht... mitkommen? <<
fragte Genika vorsichtig.

Derdekia runzelte zweifelnd die Stirn.

Sie wollte nicht, dass die beiden mitkamen.
Andererseits war es nicht ihr Recht, den beiden etwas
zu verbieten.

Da Derdekia weiterhin schwieg, versuchte Genika es wieder.
Sie wollte nicht als ohnmächtiges, hilfloses kleines Mädchen behandelt
werden.

>> Leonora wird es nicht verkraften können, diesem Anwesen fernzubleiben.
Wenn da wirklich etwas ist, das ihren Freundinnen geschadet hat. <<

Genika sah ganz kurz zu Namó.
Er wäre bestimmt dagegen, aber bei Derdekia hatte sie vielleicht noch eine
Chance.
Sie wirkte viel freundlicher und kompromissbereiter als Namó.

Genika seufzte innerlich.
Sie verstand sich selber langsam nichtmehr.
In einem Moment bewunderte sie ihren Schutzengeln und im
nächsten war sie völlig wütend auf ihn und seine Art.

>> Ich kann euch nicht daran hindern, in dieses Anwesen zu gehen.
Aber es ist gefährlich dort. Wenn ihr verletzt werdet ...
oder gar stirbt, dann werde ich mir das nie verzeihen können. <<
meinte Derdekia und sah sie flehentlich an.

Genika wusste, dass Derdekia sie nur sehr ungern gehen lassen wollte.

>> Lass uns langsam zu den Klasssenräumen gehen.
Wir sollten nicht zu spät kommen. <<
meinte Derdekia dann.

Sie gingen.

Námo hielt sich mit Derdekia ein Stück hinter ihnen.

"Meinst du, wir können sie davon abhalten, auch dort
hinzugehen, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf
gesetzt haben?", fragte er sie, sodass ihre Schützlinge
es nicht hören konnten.

>> Ich bezweifle es, aber ein Versuch ist es wert.
Wir sollten es nach der Einführungsphase in die Schule
tun. Leider sind sie noch um ein Jahr zu jung, um mit uns in eine
Klasse zu kommen.
Deshalb werden wir es in der Pause versuchen müssen. <<
meinte Derdekia leise.

Námo nickte.

"Und wir sollten hoffen, dass sie zu beschäftigt sind,
um uns zu folgen. Immerhin haben wir keine Ahnung,
was wirklich dort drinnen ist..."

>> Ja, es gibt ziemlich viele Ausgangsmöglichkeiten.
Leider sind viele negativ. <<
meinte Derdekia seufzend.

Námo sah sie mit einer gehobenen Augenbraue an.

"Du findest auch positive? Das ist...überraschend."

Derdekia lächelte.

>> Ich habe eben optimistische Züge in meinen Genen
verankert. <<
meinte sie ruhig.

Dabei spielte sie auf ihre Engelsherkunft an.

Námo zuckte mit den Schultern.

"Der Teil scheint an mir vorbeigegangen zu sein",
bemerkte er grinsend. Und er war - wenn man von
den Flügeln absah - wirklich ziemlich unengelhaft -
das passte schon einmal.

Dann wurde er wieder ernst.
"Was meinst du, was wir finden werden?"

>> Wenn Lenta Recht hat, dann wird es viel viel Dunkelheit sein.

Ich weiß nicht, in welcher Form, aber ich vermute, es werden
dämonen- oder monsterähnliche Gestalten sein.
Oder besessene Schüler.
Zu spaßen wird auf jeden Fall mit niemandem von ihnen sein. <<
meinte sie nachdenklich und besorgt.


>> Wenn etwas passieren sollte... <<
fing sie nach einer kurzen Schweigepause an.
Es fiel ihr nicht leicht das zu sagen.
>> Wenn... mit mir dort etwas passieren sollte...
dann bitte ich dich, mir nicht zu helfen, sondern aus dem
Haus zu flüchten.
Ein toter Engel ist bei Weitem besser als zwei. <<

Ihr Gegenüber nickte zögerlich.

"Ich werde es versuchen. Aber dann gilt das Gleiche
auch für dich...keine sinnlosen Rettungsaktionen, die
sowieso scheitern werden."

Er war sich nicht sicher, ob er selbst dazu in der Lage
sein würde.

Deianara nickte.

Dann lächelte sie etwas.

>> Wenn Genika wüsste, wie freundlich du sein kannst.
Sie scheint dich sehr zu mögen, aber sie blickt sehr einseitig auf dich. <<

Námo runzelte die Stirn.

"Was meinst du damit, sie weiß es nicht?
Natürlich weiß sie es!"

Es war doch klar, immerhin...immerhin...immerhin...
Wann genau hatte er ihr zum letzten Mal seine nette
Seite gezeigt?
Wann genau hatte er ihr zum ersten Mal seine nette
Seite gezeigt?

"...bin ich ihr gegenüber wirklich so ein großer Idiot?"

>> Das weiß ich nicht genau, da ich nicht immer bei euch
bin.
Das Problem liegt auch bei Genika, weil sie noch nicht so
die Fähigkeit besitzt, hinter die Handlung und Fassade einer
Person zu blicken.
Dir ist bestimmt aufgefallen, dass sie oft noch sehr naiv ist.
Ich finde, dass das einerseits eine positive, aber in diesem Sinne
auch eine negative Eigenschaft ist. <<

Derdekia seufzte.
>> Entschuldige, ich habe noch Mühe die Sprachart, die hier benutzt wird,
anzuwenden.
Was ich also auf den Punkt gebracht sagen will, ist, dass Genika
deine freundliche Seite nicht sieht, weil sie deine Art nicht entschlüsseln kann. <<

"...meine Art ist zu entschlüsseln?"

Námo schien gerade einen Moment der verzögerten Selbsterkenntnis zu haben.
Mit anderen Worten: Er verstand nicht ganz, worauf Derdekia hinauswollte.
Immerhin musste er nicht erst versuchen, seine Handlungen zu verstehen. Alles
ergab Sinn. Und eigentlich war er davon ausgegangen, dass auch alle anderen
das verstehen würden.

Nun, da hatte er sich wohl geirrt.

>> Ich verstehe dich ja.
Aber andere kennen dich eben nicht oder
hatten noch nie mit Menschen zu tun, die ihre
Gefühle eher unter Kontrolle haben als sie selbst. <<
versuchte Derdekia, ihn aufzuklären,
während sie fast bei der Treppe angekommen waren.

Jetzt zuckten Námos Mundwinkel.

"Ja, ich kenne auch keine solchen Menschen..."

Aber Derdekia hatte doch geradezu darum gebeten,
diese Antwort zu bekommen. Da konnte er doch
nichts dafür.

Derdekia lächelte.

>> Ich habe keine Probleme damit und im Augenblick geht ja
alles gut.
Also brauchst du dir keine Gedanken deswegen machen. <<
meinte sie.

>> Jetzt lernen wir erstmal unsere neue Schule und neue
Mitschüler kennen. <<
meinte sie zuversichtlich.

"Oh ja, und sie uns", meinte Námo und platzierte im Vorbeigehen einen
überaus 'freundlichen' Windstoß unter dem Rock einer neuen Mitschülerin.

Man musste sich doch angemessen vorstellen.

Das Mädchen schrie erschrocken auf und sah sich danach verwirrt um.

Derdekia schmunzelte amüsiert.
Das war typisch für Námo.

Aber es wurde nie langweilig.

Er sah sie fragend an.

"War was?"

So genau musste das Mädchen ja nicht erfahren, wer er war...

>> Nein, nicht, dass ich wüsste. <<
meinte Derdekia lächelnd.

Der nächste Windstoß wehte einem unschuldig vorbeigehendem Hutträger
den Hut vom Kopf und wehte ihn genau vor das Mädchen, dem Námo kurz
zuvor den Rock hochgepustet hatte.
Denn...wer wusste schon, ob es da vielleicht funken würde?