Das Reichenviertel der Stadt

Das Gift, das Leonoras Blick versprühte, reicht da gänzlich aus.

Derdekia nahm sie jedoch am Handgelenk und zog sie neben sich auf den
Stuhl.

>> Danke für das Essen, Leo. <<
meinte sie erfreut.

Genika stimmte iher unsicher zu und setzte sich neben Námo.

"Ja, danke", meinte Námo auch schnell.
Beinahe hätte er es vergessen.

Nicht, dass das bei Leonora wichtig war...

Leonora nickte nur.

Dann begannen sie zu essen.

Derdekia ließ es sich anscheinend ziemlich schmecken.

Leonora musterte sie von der Seite.
>> Sag mal, Mampfmonster.
Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen? <<

Derdekia nahm das Brötchen wieder runter, das binnen einer Minute
aud ein Viertel geschrumpft war und überlegte kurz.

>> Das weiß ich nicht. <<
meinte sie amüsiert und aß weiter.

Genika sah sie verwundert an.

Námo hielt sich jetzt ebenfalls nicht mehr zurück.

Wenn auch Derdekia solche Mengen aß, dann war
es für ihn doch wohl auch in Ordnung.

Trotzdem schaffte er es nicht, mit ihr mitzuhalten.

Leo saß etwas verdattert neben Derdekia.

Es ergab einen lustigen Anblick mit der vergnügt
mampfenden Derdekia neben ihr.

Leonora kam der Mampfwut auf die Schliche.

>> Wie oft isst du was? <<
fragte sie und biss selber in ihr Brot.

>> Mmh... genug, wenn ich esse. <<

Genika grinste amüsiert auf ihren Teller.
Das war eine Antwort, die garnicht zu dieser Frage passte.

Námo sah unzufrieden aus den Augenwinkeln
zu ihr hinüber.

Sie sollte wirklich öfter essen...sonst würde sie
noch zusammenbrechen und ihn mit Leo (und
Genika, aber das war nicht schlimm) ganz
alleine lassen!

Genika aß still weiter und fragte sich innerlich, worin
Engel sich körperlich (außer den Flügeln natürlich) von
Menschen wie ihr und Leonora unterschieden.

Hielten sie es länger mit Essen aus?
Oder nicht so lange ohne Licht?

Mehr und mehr Fragen formten sich in ihrem Kopf.

"Seid nicht so still", beschwerte sich Námo irgendwann.

Derdekia hatte es zwar geschafft, ihn zu beruhigen,
doch ganz hatte sie seine Nervosität auch nicht
beseitigen können.

Derdekia lächelte und trank etwas von ihrem Tee, bevor sie
zu sprechen begann.

>> Dann erzähl uns etwas, Námo.

Zum Beispiel, wie deine Kindheit war!
Ich würde zu gern mehr über meinen Schicksalsgenossen
erfahren.
Genika ist auch nicht abgeneigt, mehr über dich zu erfahren.
Das wette ich. <<

Dabei zwinkerte sie Genika zu.
Diese errötete etwas und ließ ein schüchternes Lächeln
erscheinen, während sie verstohlen zu Námo blickte.

Derdekia hatte durchaus Recht mit ihrer Behauptung.

"Meine Kindheit? Wieso meine Kindheit?"

Derdekia tat immer so, als würde sie gut
mit anderen umgehen können, aber dann
kam sie mit so einem Gesprächsthema an...

"Na ja, sie war...gut, würde ich sagen."

Er grinste.

"In unserer Nachbarschaft hat eine Familie
von Katzenmenschen gewohnt, mit deren
Sohn habe ich oft Sachen angestellt."

Wie hätte es auch anders sein können?

>> Was für Sachen? <<
fragte Genika interessiert.

Leonora dachte eher über Katzenmenschen nach.
Sie hatte einmal solch ein Exemplar gesehen.

Wo sie wohl ihre Kleidung herbekamen? Von einem
privaten Schneider?

"Ach, dies und das..."

Námo zuckte mit den Schultern.

"Einmal haben wir ihm Flügel gebaut, und
ich habe ihn dann vom Dach des Schuppens
geschubst, um sie auszuprobieren.
Zu meiner Verteidigung muss ich aber sagen,
dass sie funktioniert haben - jedenfalls kurz,
sodass es sich nicht einmal etwas gebrochen
hat!", fügte er schnell hinzu.

"Und das eine Mal, als wir Milch über ein Buch
seines Vaters gekippt haben, war es nicht
einmal Absicht."

Genika und Derdekia mussten bei der Geschichte mit den
Flügeln lachen.

Das war bestimmt ein amüsanter Anblick gewesen!

>> Das klingt übel. <<
meinte Genika kichernd.

>> Ich habe meiner Mutter einmal die falschen Kräuter
in den Tee getan!
Sie wollte eigentlich Pfefferminze, aber bekam etwas anderes.
Die Kräuter sahen sich einfach so ähnlich!
Und nun ja.. sie wirkten abführend. <<
erzählte Genika munter.

Námo lachte.

"Sie hat sich sicherlich gefreut, nicht wahr?"

Er war froh, dass sie die Kräuter in dem Tee, den sie
ihm bisher gegeben hatte, noch nicht verwechselt
hatte...

>> Oh ja. <<
meinte Grace amüsiert.

>> Sie hat ziemlich geschimpft.
Aber das konnte ich nicht hören, da es durch die Badezimmertür
gedämmt war. <<


Derdekia lachte amüsiert und war sich sogar sich, da auf Leos
Gesicht eine kurze Eingebung eines Lachens gesehen zu haben,
das sie aber gleich wieder unterdrückte.

"Ich frage mich, was sie da wohl gesucht hat",
wunderte sich Námo gespielt überrascht.

Was Genika nicht schon gemacht hatte...

Genika lächelte heiter.

Wenn sie so erzählte, war nichts von ihrer sonstigen
Unsicherheit zu bemerken.

>> Oh, und einmal, da habe ich eine ganz üble Kettenreaktion
ausgelöst, weil ich so tollpatschig war und gegen einen Schrank gestolpert bin. <<
erinnerte sie sich.

Derdekia beobachtete die beiden amüsiert.

>> Ihr beiden habt ja wirklich einiges angerichtet. <<

Námo musste bei dem Gedanken an die von Genika erwähnte
Kettenreaktion lachen.

Was da wohl passiert war?

"Was dachtest du denn?", erwiderte er dann auf Derdekias
Kommetar.

Immerhin war Genika sein Schützling - sie sollten also irgendwie
zusammenpassenn!

>> Dass das Leben nicht so spektakulär war,
wie ihr es mir jetzt erzählt.

Ich habe mich bei meiner Annahme wohl getäuscht. <<
gab Derdekia zu.

Námo grinste.

"Du willst mir doch nicht weismachen, dass du noch
nie etwas angestellt hast - absichtlich oder unabsichtlich.
Obwohl..."

Er musterte sie für einen Moment genauer.

"...irgendwie kann ich mir das doch vorstellen."

Derdekia lächelte etwas entschuldigend.

>> Dort, wo ich herkomme, ist es schwer, etwas anzustellen.
Man selbst ist garnicht imstande, soetwas zu denken. <<

Derdekia schwieg kurz und dachte etwas nach.
Dann fiel ihr etwas auf.

>> Nun ja.
Für Engelsverhältnisse stach ich schon immer ewas heraus.
Aber wenn ich mir ein "Vergehen" zu schulden hab kommen lassen... <<

Das "Vergehen" betonte sie noch so, dass man merkte, wie
übertrieben der Ausdruck war.

Leonora hatte sich ihr ebenfalls interessiert zugewandt.

Derdekia hatte selten etwas über ihre Heimat erzählt.
Den Himmel.. oder das Reich der Engel, wie auch immer man diesen Ort
nannte.

>> .. dann war es meine Neugier und mein Drang, den Menschen näher zu sein,
als es für einen Engel gut war. <<

Genika runzelte die Stirn.
Derdekia sah ganz und garnicht aus wie jemand, der die Grenzen gefährlich weit
überspannte. Wie eine Rebellin. Nie im Leben.

Derdekia schwieg wieder etwas und lächelte dann.

>> Erinnert ihr euch noch an Eloa? Das blonde Mädchen, das mir zu Hilfe gekommen
ist letzte Nacht? <<
fragte sie dann.

Was da genau passiert war, ließ sie außen vor. Als hätte es nie existiert.

Námo runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern.

"Ein bisschen", meinte er dann.

Er war wirklich froh, dass er nicht im Engelsreich geboren
worden war! Es klang irgendwie langweilig.

>> Würdet ihr mehr mit ihr reden, dann würdet ihr merken, was
ich meine.
Sie würde keine Minute zögern, euch in ihre Arme zu schließen,
zu küssen und zu sagen, dass sie euch liebt.
Weil ihr so liebe Herzen habt.
Gewalt kennt sie nicht. Ironie versteht sie nicht.
Auf andere wirkt sie vielleicht manchmal als hätte sie ein
Rauschmittel zu sich genommen.
Ahnt ihr, auf was ich hinaus will? <<


Leonora lachte.
>> Ja, stimmt! Jetzt, wo du es sagst!
Sie hat ja auch gemeint, dass es unglaublich ist, dass du dich aufregen kannst.
Dass du so viel Energie und Leidenschaft hast. <<

Námo verzog das Gesicht.

"Zum Glück bist du nicht so", kommentierte er.
"Das wäre ja nicht auszuhalten!"

Derdekia musste lachen.

>> So war ich am Anfang!
Aber ich habe schnell gelernt und früh angefangen, die
Menschen zu studieren.
Und mein Herz. Das ist allmählich immer menschlicher geworden.
Meinen Eltern hat das garnicht gefallen. <<
erinnerte Derdekia sich.

Genika sah sie erschrocken an.
>> Hast du Ärger bekommen? <<

>> Nein, nein, den habe ich nicht bekommen.
Der Ärger kam automatisch durch meine neuen Gefühle und
Erkenntnisse zu mir. <<

Námo runzelte die Stirn.

"Warum denn das?"

Er konnte sich nicht vorstellen, wie ganz normale
Gefühle Ärger bedeuten konnten.
Übertrieben heftig, ja, aber normale?

>> Ich habe angefangen, auch zu spüren, was Wut und Trauer sind.

Und ich habe Fehler gemacht. <<
meinte Derdekia nur knapp.

Dann lächelte sie wieder ihr umwerfendes Lächeln.

>> Aber erzählen wir nicht so viel von mir!
Ich will euch besser kennenlernen! <<

"Immer geht es nur um dich, was?"

Námo sah sie gespielt vorwurfsvoll an.

"Glaubst du nicht, dass wir dich auch kennen
lernen wollen?"

Derdekias Lächeln wurde verlegen.

>> Das hat nicht so eine hohe Priorität! <<
verteidigte sie sich.


>> Ach, sie ist doch nur unsicher und erzählt nicht gerne
darüber, wie die Menschheit ihr Herz aufgewühlt hat. <<
meinte Leonora neckend.

>> Nein, das ist nicht wahr!
Hmm.. doch. <<
gestand Derdekia.

"Komm schon", forderte Námo sie grinsend auf.

"Erzähl doch mehr!"