Das Reichenviertel der Stadt

Derdekia kniete sich vor ihn.

>> Aber wieso denn?
Ich finde nicht, dass du ein schlechter Schutzengel bist. <<
versicherte sie ihm und blickte ihm dabei in die Augen.

Námo wandte den Blick ab.

"Ich habe versagt", erklärte er mit leiser Stimme.
"Lian wurde angegriffen und ich war nicht da. Er...
er hätte tot sein können!"

Er erinnerte sich daran, dass genau das mit
Derdekias Schützling geschehen war.

"Tut mir leid..."

Derdekia schüttelte den Kopf und strich durch sein Haar.

>> Námo, du hast nicht versagt.
Unsere Feinde sind bloß stärker als wir sie eingeschätzt haben.

Wir werden unser Schutzkonzept umändern müssen. <<
überlegte sie und überspielte dabei gänzlich den Gedanken
an den Tod ihres eigenen Schützlings.

Einem unschuldigen Kind, dass durch die Hand des Bösen und vielleicht
sogar durch ihr eigenes Versagen den Tod gefunden hatte.

Stattdessen lächelte sie leicht und konzentrierte sich auf das,
was nun zählte.

Ganz leicht, beinahe unmerklich, lehnte Námo seinen Kopf
in Richtung Derdekias Hand.

"Lian wird im Kloster bleiben müssen", murmelte er tonlos.
"Ständig von den Mönchen umgeben. Dort wird es vermutlich
sicher bleiben.
Sie werden ihn nicht mehr aus den Augen lassen..."

Derdekia nickte.

>> Das hätte niemand erwartet.
Anscheinend haben die Engelsjäger uns jetzt auf dem Visier.

Wir werden Genika und Leonora nicht aus den Augen lassen können.
So leid es mir auch für ihre Privatssphäre tut.

Es wäre gut, wenn wir uns bald Verstärkung holen, damit du auch
sicher zu deinem anderen Schutzbefohlenen gelangen kannst.

Ich will nämlich nicht, dass dir noch etwas passiert. <<
erklärte Derdekia und sah ihn dabei eindringlich an.

>> Wir haben gesehen, wie unglaublich skrupellos die Jäger sind. <<

Námo seufzte noch einmal, dann richtete er sich
langsam wieder auf.

"Da war doch dieser Trottel...was war noch gleich
sein Name...Kilian. Du weißt schon, der Nudist."

Es war ziemlich eindeutig, dass Námo ihn nicht
mochte.

"Vielleicht sollten wir erst einmal ihn fragen."

Derdekia dachte kurz nach.

>> Ja, das wäre eine gute Idee.

Gleich morgen machen wir das.
Je mehr Hilfe wir bekommen, umso besser ist es. <<
stimmte sie ihm zu und richtete sich dann ebenfalls auf.


Im Wohnzimmer wurde Genika allmählich etwas ungeduldig.

>> Was machen sie denn da? <<

Leonora zuckte mit den Schultern.
>> Ihre seltsamen Engelsgespräche führen eben. <<

"Dann lass uns mal wieder zurückgehen", meinte
Námo trocken, mit zuckenden Mundwinkeln.

"Nicht, dass sich die beiden noch wunder, was wir
hier machen."

Derdekia lachte.

>> Im Ernstfall würde ich sagen, sie könnten vermuten,
dass wir uns lieben.
Leonora würde das auf jeden Fall sagen, um Genika in Verlegenheit
zu bringen. <<
meinte Derdekia amüsiert und öffnete die Tür.

Námo spähte bereits vorsichtig über ihre Schulter.

Wenn sie das vermuteten...
Er wusste gar nicht, wo sie den Gedanken hernehmen
sollten, aber er wollte ihren Gesichtsausdruck sehen,
wenn sie wirklich auf die Idee gekommen waren.

Leonora war tatsächlich auf diese Idee gekommen.
Doch, wie Derdekia prophezeit hatte, nur, um
Genika zu ärgen.
Nicht, weil sie es glaubte.

Genika saß verdattert da.
>> Nein, das können sie nicht machen!
Das... oder doch?
Aber nein! Sie sind doch Engel! <<

>> Es hindert sie nichts dabei.
Biologisch ist es ihnen doch möglich. <<
meinte Leonora mit einem Schulterzucken und amüsierte sich innerlich
prächtig.

Genika war am Verzweifeln.
Sie kaufte ihr aber auch alles ab!

Derdekia kam mit Námo wieder.

Námo erspähte endlich Genikas Gesichtsausdruck und
grinste breit. Sie waren wohl wirklich auf diesen Gedanken
gekommen!

Er legte Derdekia die Hand auf den Arm, um sie vom
Unterbrechen dieses Gespräches abzulenken.

Wenn sie es schafften, dass die beiden sie nicht bemerkten...

Derdekia schwieg.


>> Aber...
machen Engel sowas überhaupt miteinander? <<
fragte Genika verzweifelt.


Leonora setzte sich neben sie und schlug die Beine übereinander.

>> Bestimmt!
Woher kommen wohl sonst die reinen Engel?
Wohl kaum aus den Wolkenfasern oder aus purem Licht. <<
meinte Leonora schulterzuckend.

Genika wurde rot.
>> Ich dachte, sie werden... aus dem Licht geboren. <<
gab sie zu.

>> Dann bist du jetzt ja aufgeklärt.
Und ich meine: Uns zu beschützen, und wir sind ja wohl für
Schützlinge eine nervige Herausforderung, schweißt zusammen.
So richtig zusammen. <<
spitzte sie es weiter zu.

Námo grinste breit.
Wann war denn Leonora zu einem solchen
Quell der Engelsweisheiten geworden?

Da würde er gerne noch weiter zuhören.
So sah es also mit der Beziehung zwischen
Derdekia und ihm aus!

>> Okay, ich habe es ja verstanden! <<
keifte Genika und sackte in sich zusammen.

Sie wollte sich das nicht vorstellen!

Leonora spührte, dass der Fisch mehr als zugebissen hatte.

Sie rutschte näher zu Genika und beugte sich zu ihr vor, sodass sie an
ihrem Ohr war.

>> Engel können sogar noch heißblütiger lieben als wir.
Ihnen macht jeglicher Kontakt keine Probleme.
Námo und Derdekia haben jetzt bestimmt ihren Spaß im
Badezimmer. In der Dusche, im Bad, auf dem Boden... <<
flüsterte sie und hatte dabei ein so boshaftes Lächeln drauf.

Ein Schauer fuhr Genika durch den Körper, als Leonora ihr so
nah kam, dass sie Genika berührte.

Genikas Gesicht färbte sich mit jedem Wort rötlicher.

Für einen kurzen Moment versuchte Námo, sich diese
Szene, die Leonora gerade beschrieb, vor dem inneren
Auge wachzurufen. Doch es gelang ihm nicht - er musste
das Lachen zu sehr zurückhalten.

Er beschloss, diese wilde Spekulation doch zu unterbrechen.

"Leonora", sagte er, "quälst du etwa meinen Schützling?"

Leonora sah hinter dem Sofa auf.

>> Ich quäle sie doch nicht!
Ich sage ihr nur wie es ist. <<

Derdekia musste ebenfalls lachen.

>> Keine Sorge, Genika.
Was sie zwischen uns spekuliert hat, hat sie frei erfunden. <<

Leonora warf ihr eine Grimasse und drehte sich wieder um.

Genika schien ein Stein vom Herzen zu fallen.

>> Und... das andere? <<

Derdekia überlegte kurz und lächelte dann leicht verlegen.

>> Da hat sie sogar Recht. <<
gab sie zu.

"So, genug von Engeln, Biologie und allem anderen",
mischte sich Námo ein. "Gibt es hier eigentlich was
zu essen?"

Er hatte es zuvor nicht bemerkt, doch er war am
Verhungern.

>> Ja, aber nicht für dich. <<
meinte Leonora zuckersüß.

>> Leo... <<
begann Derdekia.

Leonora sprang seufzend auf.
>> Das war doch nur ein Scherz!

Ich gehe und gucke, was ich euch anbieten kann. <<

Sie stolzierte aus dem Zimmer.

Genika saß schweigsam und in sich gesunken auf dem Sofa.
Da das Sofa mit dem hinteren Teil zu Derdekia und Námo stand, sah
man nur ihren Kopf.

Námo ging zu ihr.
Sie war so still...

"Ist alles in Ordnung?", fragte er sie.

Genika zuckte zusammen und lächelte dann leicht.

>> Ja, alles ist gut.

Ich... habe nur irgendwie Angst.
Ich weiß nicht, wieso. <<
gab sie dann etwas leiser zu und senkte den Kopf wieder.

Er legte eine Hand auf ihre Schulter.

"Keine Sorge, Derdekia und ich, wir werden das
alles schon wieder in Ordnung bringen."

Genika schloss die Augen.

Seine Berührung wärmte sie innerlich und tat ihr so unendlich gut.

Wenn doch mehr als die schützende Liebe hinter stünde.
Eine romantische...

Es wäre so schön.


Derdekia trat neben Námo und sah Genika besorgt an.

Námo machte mit seiner freien Hand eine
beschwichtigende Handbewegung.

Alles war in Ordnung.

Derdekia nickte und zog sich wieder zurück.

Das war eine Sache zwischen ihm und Genika.

Gerade in dem Moment kam Leonora mit etwas zu Essen
zurück, sah kurz zu der stillschweigenden Runde und warf
Derdekia einen eindeutigen Blick zu.

Dann rauschte sie wieder davon, während Derdekia amüsiert
den Tisch deckte.

Námo ignorierte Leonora völlig und setzte sich
neben Genika.

Genika wurde etwas rot und lächelte verlegen, ohne in
seine Richtung zu gucken.

Sie wirkte wie ein schüchternes Schulmädchen, das sich
gerade innerlich freute, ihren Schwarm in ihrer Nähe zu haben.

Námo wunderte sich ein wenig über ihr Verhalten,
dachte aber nicht weiter darüber nach.

Stattdessen wandte er sich dem Tisch zu und
überprüfte, ob auf magische Art und Weise eine
große Menge Essen aus dem Nichts auftauchen
konnte, wenn man es sich nur genug wünschte.

Doch dem war nicht so.

Stattdessen kam Leonora wieder und Derdekia, die
auf magische Weise das Zimmer verlassen hatte, folgte ihr
und half ihr dann, das Essen auf dem Tisch zu verbreiten.


Genika sah ebenfalls hinter dem Sofa hervor.

Dann seufzte Leonora auf.

>> Ich könnt euch schon hinsetzen. <<

Derdekia lächelte amüsiert.
Wie schwer es ihr fiel, freundlich zu sein.
Es war niedlich!

Breit grinsend machte sich Námo auf zum Tisch
und setzte sich.

Wenn das Essen auf diese Art kam, war es auch
in Ordnung, fand er.
So lange Leonora es nicht vergiftete.