Das gute/helle Viertel

Amilia stand wieder in der Küche und backte einen für sie
neuen Kuchen.

Sie war gespannt auf das Ergebnis.

Rita kam in die Küche und lehnte sich an die Arbeitsplatte
und trank einen großen Schluck Wasser.

Amilia sah auf.
>> Gehst du irgendwo hin? <<

Rita hob eine Augenbraue.
>> Wie kommst du darauf? <<

Amilia lächelte, während sie den Teig in die Form füllte.

>> Du trinkst vor Unternehmungen immer so viel.
Als würdest du in zwei Wochen nichts mehr zu Trinken bekommen.

Das tust du eben immer, bevor du an irgendeiner Maschine rumbastelst oder
dich auf einen Ausflug begibst.

Und da du dir eine Jacke angezogen hast und eine Tasche mitnimmst, ist es Nummer Zwei. << analysierte Amilia sie mit einem Schulterzucken.

Rita verzog einen Mundwinkel und strich sich mit dem Handrücken über den Mund.
War sie so durchschaubar?

Das musste sie dringend ändern.

>> Kümmer dich um deinen eigenen Kram. <<
meinte sie angenervt.

>> Teig, wenn ich bitten darf. <<
korrigierte Amilia sie mit einem schelmischen Lächeln.

>> Du mich auch! <<

Rita ging zur Ausgangstür.
Doch da sie hier ein Fluch zu verfolgen schien seit einigen Wochen,
kam schon das nächste unangenehme Hindernis in ihren Weg.
Grace versperrte ihr mit verschrenkten Armen den Ausgang.

>> Du gehst da jetzt hin?
Bist du völlig durchgeschnappt, das allein zu machen? <<
fuhr Grace sie an.

Rita strich sich durchs Haar.
>> Geh mir aus dem Weg.
Das ist nicht deine Angelegenheit. <<

>> Inwiefern ist das nicht meine Angelegenheit, wenn es doch unsere
gesamte Gruppe betrifft? <<
konterte Grace angenervt.

>> Noch betrifft es nicht unsere Gruppe. Aber wenn du mich weiter aufhälst,
wird es das! Das regel ich allein! <<
fuhr Rita sie agressiv an.

Doch Grace blieb standhaft.
>> Nein, ich komme mit. <<

Ritas Blicke durchbohrten sie wie Eisspitzen.
>> Geh-mir-aus-dem-Weg. <<

Raphael stieß zu ihnen.

"Was ist denn los?", fragte er.

Rita sah so aus, als würde sie Grace gleich an die Kehle gehen.
Er dachte, dieser Blick sei für Adeline reserviert, doch er schien
auch auf andere anwendbar zu sein.

Rita konnte diesen tödlich-bösen Blick anscheinend auch bei ihm
anwenden.
Das bewies sie ihm, sobald sie ihn bemerkt hatte.

Grace sah nun ebenfalls zu Raphael, jedoch mit weitaus freundlicherer Gesinnung.

>> Ich versuche gerade, mich bei Rita einzumischen.

Sie will auf eigene Faust ein Problem mit den anderen Bellavia lösen.
Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass ich dir mal von der anderen
Gruppe erzählt habe, mit der wir uns nicht so gut verstehen.

Die haben vorhin bei uns angerufen und uns beschuldigt, wir hätten eine
von ihnen entführt. <<
erklärte sie ihm frei heraus.

>> Was wir nicht haben. <<
gab Rita überzeugt dazu.

>> Deshalb gehe ich jetzt und regel die Angelegenheit, die diese Ziegen anscheinend
nicht selber regeln können. <<

Grace sah kurz zu Rita und dann wieder zu Raphael.
>> Ich will mit. Kommst du auch mit? <<

Rita sah sie wütend an.

>> Was soll das denn jetzt?!
Meine Ausflüge sind keine blöden Stadttouren!
Nein, ihr kommt BEIDE nicht mit. Basta! <<

Raphael seufzte.

"Dann komme ich eben nicht mit...
Na ja, vielleicht will Addy wieder vorbeikommen.
Und dich begrüßen, wenn du zurückkommst."

Rita hätte ihm am liebsten für diesen Trumph den Hals umgedreht.

Genauso sah sie ihn auch an.

Dann seufzte sie angenervt.

>> Meinetwegen.

Aber ihr befolgt meine Befehle! <<

>> Jawhol, Sir! <<
meinte Grace und stand kerzengerade.

Sie strahlte über beide Ohren.

Raphael verbarg sein Grinsen wesentlich besser und nickte.

Rita war wirklich leicht zu überzeugen gewesen.

Rita schob Grace schweigend zur Seite.

Vielleicht würden die beiden ihr doch eine Hilfe sein.


>> Hört zu. Es könnte ausarten.
Beschweren könnt ihr euch später nicht. <<
verdeutlichte sie den beiden noch einmal mit einem eisernen Blick.

Amilia spähte hinter dem Türrahmen zur Küche hervor und runzelte die Stirn.

So viel zu Einzeltour! Rita hatte doch schon wieder darauf gezielt.

Intrigante Kuh!

Sie sah sich um.
Und wo war Raphaels kleiner Babydrache? Wenn er schon auf Abenteuer mit
den Dämonencousinen ging, dann konnte sie wenigstens auf sein Baby aufpassen.

Immerhin etwas.

Hoffentlich fackelte es nichts ab.

Sie ging wieder zu ihrem Kuchen, während Rita, Raphael und Grace das Haus verließen.

An der Tür blieb Raphael noch einmal stehen und pflückte den
Babydrachen von seinem Hemd. Dann setzte er ihn ins Haus.

Wenn sie Probleme bekamen, sollte er nicht ins Kreuzfeuer
geraten. Amilia würde sicherlich auf ihn aufpassen.

Amilia blickte bei dem Schließen der Tür noch einmal hinter der Küchentür hervor.

Da entdeckte sie das Drachenbaby, sah sich kurz um, dass auch niemand da war
und ging erfreut zu der Miniausführung des baldigen feuerspuckenden Biestes.

>> Hallo, Kleiner!
Hat dein Papa dich zurückgelassen hier? <<

Sie hockte sich vor ihn.

Natürlich konnte das Baby sie nicht verstehen, kein bisschen.
Aber sie sprach dennoch gern mit ihm.

>> Ich backe gerade einen Kuchen.
Und mir ist da gerade eine tolle Idee gekommen.
Wie wär´s mit Marshmallow-Muffins? Du kannst mir dann sogar helfen. <<

Das Drachenbaby quiekte zögerlich, tapste dann jedoch
auf Amilia zu und versuchte, ihr Bein hinaufzuklettern.

Seine Klauen waren glücklicherweise noch so weich,
dass sie keinerlei schmerzhafte Spuren hinterließen.

Da die Temperaturlage in Ironwyn heutzutage sehr sommernahe und
die Sonne sehr intensiv war, hatte Amilia nur kurze Hosen und ein Top an,
wodurch sie die kleinen Klauen des Babys sehrwohl spüren konnte.

Deshalb nahm sie es vorsichtig in ihre Arme - wie ein Baby - und trug
es mit in die Küche.

Der kleine Drache kuschelte sich an sie und quiekte.

Die Gruppe kam nach kurzer Zeit in der Stadt an.


Lola blieb in der Straße stehen und dachte angestrengt nach.

Sie war nur einmal bei Tayas Pflegemutter gewesen.

Und das bei Tageslicht.

Wie finde ich es jetzt am besten? Ironwyn ist eine große Stadt!

>> Wo geht es hier zum hellen Viertel? <<
fragte sie Raphael, Grace und Saskia.

Ab da war es höchstwahrscheinlich einfacher.

Grace hielt sich schweigend zurück.
Das konnten die beiden auch beantworten.

Noch bevor Raphael antworten konnte, meldete sich Saskia zu Wort.

"Wir sind schon drin!", teilte sie ihr mit.

Lola strich sich durch das Haar und sah sich um.

>> Oh. <<

Mist.

Avelyn musterte sie.

>> Kann es sein, dass du dich ganz eventuell vielleicht ein klein wenig...
verlaufen hast? <<
fragte sie mit einer zuckersüßen Stimme.

Lola verzog ein Gesicht.


>> Vielleicht... etwas. <<

>> Aber ich werde mich gleich orientieren! <<
wandte sie schnell ein und sah sich die Häuser an.

Grace zitterte.
Es war schrecklich kalt draußen und sie hatte keine warme Jacke mitgenommen.

Am liebsten wäre sie mit Raphael weitergegangen und hätte Lola und den Rest ziehen lassen.

Aber sie hatten anscheinend Probleme.
Und da war noch Saskia.
Was sollten sie mit ihr machen?

Sie schien keine Ahnung davon zu habe, was sie in Wirklichkeit war!

"Wo genau wollt ihr hin?", fragte Raphael nun.

Grace musste wirklich bald nach Hause, doch
sie würde scheinbar nicht gehen, bis die anderen
eine Idee hatten, wo sie hinsollten.

Also konnte er ihnen auch gleich helfen, dann ging
es schneller.

Lola lächelte.

>> Hier gibt es einen kleinen Laden mit Obst und Gemüse und
gleich daneben einen Friseur.

"Almenie" heißt er.
Könnt ihr uns den Weg dahin zeigen? <<

Saskia zuckte die Schultern.

In dem Bereich kannte sie sich nicht so gut aus.



Raphael musterte noch einmal kurz Grace.
Sie musste wirklich nach Hause.

"Geht in die Richtung", wies er sie an und deutete
dorthin, "dann kommt ihr auf einen Platz. Da geht
links eine Gasse ab, und da ist es."

Er musste Grace wirklich nach Hause bringen.

Lola musterte Grace stirnrunzelnd.

Sie sah nicht gut aus.

Ob es mit dem Jäger zusammenhing?
Mila hatte ihnen einmal erzählt, dass Jäger sich oft weiterentwickelten.

Vielleicht hatte dieser eine neue Methode gefunden.

Es tat ihr leid für Grace. Auch, wenn schon vieles zwischen ihnen passiert
war, dass die Abneigung der beiden Gruppen gegeneinander verstärkt hatte,
so konnte Lola nicht anders, als zu hoffen, dass es Grace wieder besser gehen würde.


Sie wandte sich Raphael zu.
Es war alles so schnell geschehen.
Deshalb hatten sie ihn nicht näher kennenlernen können.

Und der heftige Schlag, der das Bild der Bellavia aufgerüttelt hatte,
würde tief sitzen bleiben.

>> Vielen Dank! <<

Sie lächelte ihm zu.

>> Ich hoffe, wir werden uns einmal unter nicht so widrgien Bedingungen
wiedertreffen, Raphael. <<


Avelyn sah zu Saskia.
Was sollten sie denn mit ihr machen?

Lola hatte ihr auf dem Hinweg zugeflüstert, dass Saskia auch eine Bellavia
war. Ohne es zu wissen.


>> Hey Saskia, was willst du jetzt machen? <<
fragte sie geradeheraus.

Bestimmt wollte sie jetzt nach Hause gehen.

Aber Avelyn machte sich Gedanken.
Und die gingen in die Richtung, dass ihre Entführer sie ausfindig machen
würden.

Um ihr dann den letzten Atemzug zu nehmen.
Das gefiel ihr überhaupt nicht.
Sie mussten etwas machen!

Raphael erwiderte das Lächeln.

"Das hoffe ich auch. Bis dahin...passt auf euch auf."

Mit diesen Worten begann er, Grace davonzuführen.




Saskia zuckte die Schultern.

Sie fürchtete das nicht.

"Nach Hause gehen, was sonst?"

Grace sah über die Schulter zu Saskia.

Auch, wenn Avelyn und Lola sich sehr um Saskia sorgten und
das noble Ziel hatten, Saskia zu helfen.

Die beiden wohnten im hunderte von Kilometer entfernten Benigner und
würden Saskia kaum zwingen können, mit ihnen zu gehen zu ihrem eigenen
Schutz.
Sie würde es ja mangels ihres Wissens nicht verstehen.
Den beiden waren die Hände gebunden, auch wenn sie dennoch
tapfer versuchten, Saskia zu helfen.


>> Raphael, können wir noch einen k-kleinen Moment warten? <<
fragte sie ihn und blieb stehen.

Sie wollte genauso nach Hause gehen wie er.
Und sie war ihm sehr dankbar für diese Entschlossenheit.

Aber Saskia wusste nicht, dass ihr Leben nun in Gefahr war.

>> Hey, wie wär´s, wenn du noch etwas zu uns mitkommst?
Und wir warten, bis uns die anderen, die zurückgeblieben sind,
erzählen, wie es gelaufen ist.

Ich meine, d-deine Entführer werden bestimmt nach dir suchen, jetzt, wo
du mehr von dem Haus weißt als du solltest. <<
schlug sie Saskia relativ souverän vor.

Raphael blieb ebenfalls stehen und verbarg seine Unzufriedenheit.

Grace musste schleunigst an einen Ort, an dem man ihr helfen konnte!

...sollten sie nicht vielleicht lieber zu einem Heiler gehen?




Saskia zuckte die Schultern.

"Das einzige, was ich davon weiß, ist, wie die Schränke von innen
aussehen. Und außerdem, meine Schwester wird mich umbringen,
wenn ich jetzt nicht nach Hause komme."

Grace seufzte ergeben.

>> Na gut.

Dem Zorn einer großen Schwester sollte man sich möglichst
selten aussetzen.

Wir sehen uns bestimmt in der Schule. <<
meinte sie mit einem Nicken.

>> Pass auf dich auf.

Und.. ihr auch. <<
meinte sie dann an Lola, Avelyn und Lyash gewandt.

Lola nickte.
>> Dasselbe gilt auch für euch.

Ich habe das Gefühl, dass sich einiges zuspitzen wird. <<
meinte Lola mit einem verheißungsvollen Blick.


Grace hatte so das ungute Gefühl, dass Lola nicht falsch lag damit.


>> Okay, wir sollten jetzt wirklich gehen. <<
flüsterte sie und ging mit Raphael.

Während sie gingen, behielt Raphael sowohl sie als auch
die Umgebung im Auge.

Er wollte wirklich nicht überfallen oder entführt werden -
vor allem mit Grace in diesem Zustand.



Auch Saskia verabschiedete sich nun.

"Kommt gut an! Man sieht sich!"

Avelyn winkte ihr etwas irritiert nach.

>> Sie hat wirklich keinen blassen Schimmer, was um sie herum passiert. <<
meinte sie ungläubig.

Lola sah Saskia mit einem gequälten Lächeln nach.

>> Irgendjemand wird es ihr früher oder später sagen müssen.
Aber ich glaube, dass Rita und die anderen das schon bald übernehmen werden. <<

Das wiederum gefiel Avelyn nicht wirklich.
Aber was sollten sie jetzt auch dagegen tun?

Missmutig setzten sie sich in Bewegung.
Sie hofften einfach nur, dass Gigi beim Aufwachen wieder Gigi war und
dass Taya, Caro, Alex und Mila heile wieder zu ihnen stoßen würden.

Und natürlich, dass sie überhaupt das Haus von Meriel fanden.


Grace ging schweigend neben Raphael die Gassen entlang.

Ihre Gedanken waren jetzt sehnsüchtig bei einem Eimer ohne Boden, in den sie
sich endlos übergeben konnte.

Aber sie dachte tapfer an sonnige Wiesen und Blumen und an ihre geliebte Gitarre
und das Mikrofon. Und an Raphaels beeindruckende Tat.

>> D-du warst wirklich großartig heute, Raphael.
Auch, wenn Rita wütend ist.
Du musst verstehen, s-sie will nicht verlieren. <<

Raphael blickte sie an und lächelte.

"Danke. Ich kann verstehen, wieso sie wütend ist -
aber in dem Moment war es die beste Option."

Grace erwiderte sein Lächeln zustimmend.


Die beiden kamen an der Tür an.

Sie hörten wie jemand lauthals die Treppe runterrannte und im nächsten
Moment wurde die Tür aufgerissen.

Amilia stand erzürnt vor den beiden.

>> Wo zum gottverdammten Teufel seid ihr gewesen?!

Es gab Leute, die haben sich Sorgen gemacht!!

Wie seht ihr denn aus?!
Habt ihr im Schlamm Nahkampftrainig gemacht, oder was?!

Und wo ist Rita, die blöde Kuh?!
Was hat die schonwieder ausgeheckt! <<
brach ein enormer Tsunami aus Schimpftiraden und Fragen über die beiden ein.

"Später", würgte Raphael sie mit der Übung einer Person,
die viel Zeit mit Adeline verbracht hat, ab.

"Grace braucht Hilfe."

Felicia kam in dem Moment, angelockt von Amilias Schimpftirade, ebenfalls in den Flur.


Sie hörte Raphaels letzten Satz noch, der Amilia jegliches Schimpfwort zurück
in den Hals stopfte.

>> Was? <<

Grace lächelte.
>> Es ist nicht so schlimm, Ami. <<

>> Ehrlich? Du siehst aus als hättest du Magen-Darm-Grippe. <<
meinte Felicia stirnrunzelnd.


>> Eher als hätte sie Tollwut. <<
meinte Amilia, die Grace nun aufmerksam musterte.

Grace versuchte tapfer, ihr Zittern zu unterdrücken.

>> I-ich weiß nicht, was ihr meint. <<

>> Kommt erst einmal rein, bevor du weiter leugnen kannst. <<
meinte Felicia und schob die beiden rein.

>> Was ist denn passiert? <<
fragte Amilia verwirrt, während sie Felicia, die Grace nun in das Wohnzimmer zog,
folgte.

Vi sah aus der Küche in den Flur, mit einem Sandwich im Mund.

Als sie den Ernst in der Atmosphäre bemerkte, nahm sie das Sandwich aus dem Mund
und folgte ihnen ins Wohnzimmer.

Raphael stützte Grace, während sie ins Wohnzimmer geschoben wurden.

"Wir hatten ein Zusammentreffen mit...Bellaviajägern?"

Fragend sah er Grace an.