Die Medietra-Wälder

Selin ging unbekümmert zum Rand.

Sie hatte noch rechtzeitig Tyrinias unauffällige, aber effiziente Bewegung
gesehen, die einfach nur ein Runterspringen oder eher Fallenlassen beinhielt.

Durch die Dunkelheit und den Nebel war Tyrinia jedoch urplötzlich verschwunden.

Sie stellte sich vor den Rand und blickte runter.

Tyrinia stand auf einem Vorsprung, der an den Felsen entlangführte und von einem
Holzgeländer umrandet war.

Selin sprang ebenfalls runter. Aber etwas auffälliger, damit die männlichen Gefährten
es auch sahen.

Riyad besaß den Anstand, zuerst den erschrocken aufjaulenden Nekir
hinunterzuschubsen, bevor er selbst hinterhersprang.

Sie konnten ihn doch nicht zurücklassen.



Nekir landete völlig überrumpelt auf Selin.

Selin keuchte auf.

>> Was zur Hölle sollte das denn?!
Konntest du ihn nicht auf den Boden schmeißen?! <<

Nekir war wirklich schwer, aber unglaublich warm.

Und jetzt tat ihr Rücken weh.

Tyrinia lächelte amüsiert, während sie geduldig auf den chaotischen Haufen wartete.

Riyad stand völlig unbeteiligt neben ihnen.

Immerhin hatte er Nekir nicht hinuntergetreten -
wahrscheinlich hätte er dann das erste, was er
berührte, gebissen.

Was beschwerte sich Selin?



Nekir fand seine aktuelle Position wirklich sehr bequem.
Er sah keinen Grund, sich wegzubewegen.

Ein angenervtes Fauchen war von Selin zu hören und im nächsten
Moment flog Nekir hochkant über Tyrinia und Riyad rüber und landete einen
Meter weiter vorn auf dem Boden.

Selin richtete sich auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung.

>> Wir haben nicht alle Zeit der Welt, du Faulpelz! <<

Sie war erleichtert, dass man in der Dunkelheit den leichten roten Ton auf ihren Wangen nicht sah.

Tyrinia stieg über Nekir drüber und ging weiter.

>> Wie schön, dass ihr es endlich geschafft habt und es zu keinem
Freiluftgerammel kam. <<

>> Sagt die Richtige. <<
fauchte Selin.

Tyrinia lächelte nur und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Unwillig knurrend stand Nekir wieder auf und schüttelte sich.


Riyad schwieg weiterhin.

Selin folgte Tyrinia mit einem bockigen Schweigen.


Tyrinia musste feststellen, wie angenehm es war, die beiden
mal nicht in sexueller Überspannung um sich zu haben.

Sie konnten sich ruhig öfter so annerven.

Der Felsweg führte sie unterdessen in sehr rapidem Gefälle runter in das Tal.

Es schien sich jedoch um einen Seitenweg zu handeln, da sie erst auf einen
Schotterweg kamen, der nach einigem Fußmarsch durch erneuten Wald
auf einen breiten Pflasterweg führte.

Der Nebel lichtete sich unterdessen leicht.

Tyrinia sah in den Himmel.
Das konnte nur bedeuten, dass der Sturm nahe war und es bald regnen würde.

Zum Glück waren es nurnoch fünf Minuten Fußmarsch zum Dorf.

Nekir begann plötzlich zu schnuppern.

Irgendetwas roch seltsam...doch er konnte nicht sagen, was.

Vielleicht kochte einer der Einwohner verdorbenes Fleisch.
Vielleicht war hier vor einiger Zeit ein Troll entlanggelaufen.

Vermutlich war es jedoch nichts.

Tyrinia roch ebenfalls etwas Seltsames.

Es roch nach verbranntem Holz, nach verbrannter Kleidung.

Es roch allgemein nach jeglichem Verbrannten.

Unauffällig biss sie sich auf die Unterlippe. Irgendetwas gefiel ihr nicht.

Aufmerksam sah sie sich um.

Da sie jedoch als Erste voranging, sah man ihren Gesichtsausdruck nicht.
Man sah nur den stolzen und selbstsicheren Gang, der nichts von ihren Gedanken
verriet.

Riyad rümpfte die Nase.

Dieser Geruch gefiel ihm gar nicht...

Es roch nicht so, als würde das Dorf noch stehen.

Tyrinia beschleunigte ihren Schritt.

Schneller als die anderen bog sie um die Ecke.

Als die Drei nachkamen, stand sie wie angewurzelt vor einer Ruine aus
Schwarz.

Was einst Häuser gewesen waren, zeichnete sich nun als schwarze, noch leicht
dampfende Restsäulen und schrecklich viel Schutt aus.

Das Dorf war eine einzige Einöde.

Man konnte durch die Trümmer bis in die Mitte der Stadt blicken.

Dort ragte einzig und allein der demolierte Rathausturm heraus.

Ein löchriges Monument in einem Zeugnis von Tragödie und Tod.

An seiner Spitze flatterte etwas, das jedoch keine Flagge zu sein schien.
Es bewegte sich zu schwerfällig.

Der Nebel lag noch immer auf den Trümmern und ließ sie wie eine Geisterstadt
aus einem bösen Alptraum wirken.
Totenstille herrschte an diesem Ort. Nur der Wind war gelegentlich zu hören oder
das Knacken von verkohlten Pfeilern.



Selbst Selin blieb bei diesem schrecklichen und traurigen Bild stehen.
Ihr Kiefer klappte kurz runter als wolle sie etwas sagen, um dann aber wieder
hochzuklappen.
Sie war irritiert, wie das passieren konnte, ohne, dass eine der Schulen es gemerkt hatte.

Die Stille war lähmend.

Riyad traf dieser Anblick wie ein Schlag in die Magengrube.
Er konnte sich nicht mehr rühren. Wie hatte das geschehen
können? Noch dazu völlig unbemerkt?

Er versuchte, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen, doch
der Gestank stach nur noch tiefer in seine Nase.

Langsam blickte er auf zur Spitze des Turmes. War das ein
Körper?

Riyad schloss die Augen und versuchte, das soeben Gesehene
an einen Ort ohne Gefühle und ohne Betroffenheit zu verbannen.
Er war hier, weil er gegen so etwas ankämpfte. Und würde er die
Kontrolle verlieren, konnte er es nicht mehr.

Entschlossen sperrte er seine Gefühle hinter eine mentale
Tresortür, die sich erst nach dem Ende seiner Mission wieder
öffnen sollte, und öffnete die Augen wieder.

Sie waren so gefühlskalt, wie sie vor dem Betreten des Dorfes
gewesen waren.



Nekir schnaufte missgelaunt.
Wo sollten sie jetzt eine ordentliche Unterkunft finden?

Tyrinia rührte sich kein Stück.

Bei Nekirs Schnauben schien sie wieder etwas aufzuwachen.

>> Wir sollten sehen, ob sich etwas Brauchbares finden lässt. <<
kam es aus ihrer Richtung.

Selin sah kurz in ihre Richtung.
Ihre Stimme klang ganz seltsam. Irgendwie belegt und weit weg.

>> Das Dorf ist nicht groß. <<

Ohne ein weiteres Wort ging Tyrinia los und stieg über
die Trümmer.

Dann verschwand sie in einer der ehemaligen Straßen.

Selin seufzte und ging zu einem der Trümmerhaufen rüber.

>> Das Holz ist noch etwas warm. <<
stellte sie überrascht fest.

>> Es muss vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein. <<

Sie sah sich misstrauisch um.

>> Sie könnten noch hier sein. <<

Nekir sah sie an mit einem Blick, der glasklar besagte:
"Schau mich nicht so an!"

Er würde garantiert niemanden suchen, der ein Dorf
in Flammen steckte, es sei denn, er hatte ein neues
Ziel für diese Person.
Und war feuerresistent.



Riyad blickte ebenfalls umher.
Dann folgte er Tyrinia.

So, wie sie gerade wirkte, würde sie sich vermutlich
selbst in Gefahr bringen, ob sie es wollte oder nicht.

Und er wollte wegen ihr keinen Ärger bekommen.

Selin verdrehte die Augen.

>> Bell, falls du jemanden riechst.
Oder heule. Was auch immer du für Geräusche von dir geben kannst. <<

Sie ging in die andere Richtung.

>> Hoffentlich liegen hier nicht die ganzen verkokelten Leichen.
Die stinken bestialisch. <<

Es würde schwer werden, in den Brandtrümmern etwas Nützliches zu finden.

Alles war den Flammen zum Opfer gefallen oder von den Verursachern mitgenommen,
vermutete Selin.



Tyrinia dagegen war sehr schnell.
Denn, als Riyad um die Ecke bog, war sie nicht mehr zu sehen.

Nur das Zischen von erlöschender Glut oder Knarzen.

Nekir folgte Selin und versuchte, nicht allzu tief zu atmen.

Den Geruch würde er ewig nicht aus seinem Fell herauskriegen.



Riyad blickte sich um, wohin sie gegangen sein könnte, und bog
dann entschlossen um eine Ecke.

Selin beugte sich in ein Haus rein und durchsuchte einen Haufen.

>> Bäh. Doch nicht. <<

Sie schüttete den Haufen schnell über das schwarze Gesicht.



Die Straße schien in die entlegeneren Häuserreihen zu führen.

Weit hinten konnte er eine Gestalt erkennen, die hinter einer Ecke verschwand.

Nekir schüttelte den Kopf und nieste.

Was auch immer sie da ausgegraben hatte,
er hatte es bis draußen riechen können.




Riyad folgte der Gestalt, immer auf einen möglichen
Hinterhalt achtend.

Immerhin konnte es auch derjenige sein, der dieses
Dorf vernichtet hatte...

Ohne es zu merken, ballte er die Fäuste und sammelte
seine Kräfte.

Selin ging derweil weiter.

Einige Habseligkeiten lagen verstreut auf dem Boden.
Anscheinend eine überstürzte und missglückte Flucht, denn auf vielen
waren Spritzer und sogar ganze Streifen Blut zu erkennen.

Selin runzelte die Stirn.

Ohne, dass jemand es gemerkt hatte? Es ließ ihr einen kalten Schauer
über den Rücken laufen.



Es war stark neblig in dem ehemaligen Viertel, in dem Riyad sich nun befand.

Weit hinten, war ein dunkler Schemen, der nun still inmitten der Trümmer stand.

Nekir schnupperte herum.

Er versuchte, hinter dem Rauch, Blut und Verwesungsgestank
herauszufinden, was es gewesen war - und wie lange es her
war. Sie mussten ja nicht unnötig in Gefahr gelangen.



Riyad kühlte die Luft um sich herum ein wenig ab, um sich im
Nebel weniger sichtbar zu machen, und trat dann leise an
die Person heran.

Es konnte Tyrinia sein...aber es konnte auch eine Gefahr sein.

Es muss mehr als einen halben Tag hergewesen sein, denn
der Geruch hatte schon an seiner ursprünglichen Intensität verloren.


Selin ging derweil zwischen den Trümmern umher.


Zu seinem Glück -oder auch nicht- war es Tyrinia.

Ihr langes, schwarzes Haar und die dunkle Kleidung waren das erste, was
zwischen den Nebelfaden hervorstachen.


Sie kniete in einem Trümmerhaufen-regungslos.

Sobald er das entdeckt hatte, beschloss Nekir, seiner Nase
zuliebe das Schnüffeln größtenteils einzustellen und lief nur
noch hinter Selin her.



Riyad atmete leise und tief durch, dann entließ er seine
gesammelten Kräfte langsam an die Umgebung.

Stillschweigend blieb er stehen und blickte sich zunächst
um, soweit er sehen konnte, und musterte dann sie.

Selin blieb irgendwann inmitten einer Ruine stehen und atmete scharf aus.

>> Das hier ist ein einziger Trümmerhaufen.

Hier finden wir nichts Nützliches.

Wir sollten weitergehen. Sonst erwischt uns das Gewitter und wir haben keinen
Unterschlupf. <<


Tyrinia strich mit der Hand durch die Trümmer, schob einige verkohlte Bretter weg,
alles mit apathischen Bewegungen.


Dann ließ sie ihre Hand auf einem Gegenstand und hob den Kopf leicht gen Himmel.
Ihre Hand bekam ein leichtes Zittern.


Etwas an ihrer Körpersprache sagte aber, dass sie sich Riyads Anwesenheit bewusst war.

Nekir nickte, dann stieß er einen fragenden Laut aus und
blickte umher.

Wie würden sie die anderen finden?



Riyad bemerkte dies, blieb jedoch, wo er war.

>> Kannst du die Spur von Ziegen aufnehmen? <<
fragte Selin mit einem säuerlichen Ton.

>> Nein, ich glaube nicht.
Tyrinia tarnt das hinter einer Eisschicht.
Na gut. Wir gehen erst einmal in die Richtung, in die die beiden gegangen sind.
Ich hoffe nicht, dass verbrannte Städte und Tod die beiden anmachen.

Das will ich nicht sehen. <<
grollte Selin und stampfte vor.

Tyrinia traute sie es zu. Und Riyad? Der war still und ließ nicht viel von sich durch.
Perfekte Mischung für versteckte Perversionen.


Bei Tyrinia und Riyad war jedoch nicht viel von leidenschaftlichem Feuer zu spüren.
Wie schon von Anfang an.

Hier schwebte eher eine Aura von kehlenzuschnürenden Beklemmung, Trauer,
Unwohlsein, kalter Verheißung und Tod in der Luft.


Tyrinia war immernoch wortkarg und rührte sich nicht von der Stelle.
Die Sekunden kratzten und zogen wie zähnemürbende, quälende Stunden an ihnen
entlang.

Irgendwo brach ein ausgebranntes Haus in sich zusammen.

Der Krach war schrecklich Laut in der zähen Stille.

Nekir blickte ihr für einen Moment amüsiert nach, dann folgte er ihr.

Obwohl er die Zustände um sie herum nicht sonderlich mochte,
hätte er gegen ein wenig...Nähe nichts einzuwenden gehabt.




Riyad blickte sich nach Gefahren um und fragte sich gleichzeitig,
ob Tyrinia ihn bei einer weiteren Annäherung eher umbringen oder
qualvoll verstümmeln würde.

Doch er ließ sie in Ruhe.

Selin sah ihn kurz nachdenklich an.

Dann kehrten sie zurück zu dem ehemaligen Rathaus mit dem zum
Glück nicht erkennbaren Flaggenersatz.


>> Sie sind nach rechts gegangen.

Also lass uns ihnen wieder einmal folgen. <<


Irgendwann legte Tyrinia kurz ihre Hand an das Gesicht und schien aus ihrer
Starre aufzuwachen.

>> Wir finden hier nichts Nützliches.
Das war das einzige Haus, in dem ich Brauchbares hatte.
Aber es ist für immer verbrannt. <<

Sie richtete sich schwerfällig auf.
Immernoch war sie von ihm abgewandt. Und das blieb auch.

>> Wir sollten gehen.
Weit weg. Es ist nicht gut, hier zu sein.

Außerdem wird es bald gewittern.
Ein anderer Unterschlupf muss her. <<

Sie strich sich müde durchs Haar und sah sich noch einmal in der Ruine um.

Nekir tapste ihr brav nach wie ein gehorsamer Schoßhund.



Riyad hätte sie gerne etwas gefragt, hatte aber das Gefühl,
das war nicht der richtige Moment dafür.

Dann wiederum...er ging nach Nigras. Taktgefühl war hier
ein Schimpfwort.

"Kommst du von hier?", fragte er.

Selin ging immer langsamer.

Etwas war anders geworden.


Tyrinia schien sich kurz aufbäumen zu wollen.
Ein böses Zeichen für einen verletzenden Kommentar.

Aber sie kam nicht bis dahin.

Stattdessen zuckte sie mit den Schultern und verließ die Ruine.

>> Das würde jetzt nichts ändern, Riyad. <<
seufzte sie.

>> Es war ein Dorf. Es ist zerstört. Und niemand hat es bemerkt. <<


Sie sah sich in der Straße um, in der sie waren.

Nekir bemerkte das und versuchte zu erschnuppern, was Selin
so beunruhigte.



Riyad bemerkte die Reaktion.

Plötzlich vereinigten sich die Abneigung gegen Nigras und alles,
was dazugehörte, die Wut und Trauer über die Zerstörung des
Dorfes und alle anderen negativen Gefühle, die er heute bereits
verspürt hatte, zu einem abscheulichen Gemisch, das seine
Gedanken unterdrückte, bevor er sie überhaupt formulieren konnte.

"Das Dorf scheint dir ja viel bedeutet zu haben", stellte er fest.
"Schade, dass du nicht da warst, als es zerstört wurde. Vielleicht
hättest du helfen können."

Wobei, das ließ er an dieser Stelle bewusst offen.