Das Reichenviertel der Stadt

Leonora spührte es ebenfalls.
Und bohrte mit Freuden weiter.

>> Bist du fähig dazu, einen Mann mit deinen
animalischsten Trieben zu begehren, Derdekia? <<

Dabei beugte sie sich zu Derdekia, die sich etwas zurücklehnte
und unsicher durch den Raum sah.

Da war ihre Selbstsicherheit plötzlich nichtmehr so groß.

>> Könntest du zum Beispiel Námo begehren können?
Nicht nur im Sinne der Liebe, sondern seinen Körper? <<
hakte Leonora weiter nach.

Derdekia atmete tief ein.

>> Also.. Engel begehren normalerweise nicht.
Sie lieben.
Aber... <<

>> Aber? <

Námo sah Leonora ein wenig schief von der Seite an.

Wie kam sie gerade auf ihn?
Immerhin...
Er und Derdekia...

Das war ein seltsames Bild.

Derdekia atmete tief ein und setzte sich wieder auf.

Sie wurde tatsächlich immer menschlicher und empfand schon
soetwas wie Unsicherheit.

Etwas betreten strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte
Leonora dann, wieder gefasst, in die Augen.

>> Aber sie können anfangen, Lust und jegliche Art von Begierde zu
empfinden, wenn sie zu lange unter den Menschen weilen.
Námo zum Beispiel traue ich zu, dass er Lust und Begierde empfinden kann,
da er trotz seiner Engelsgene von Geburt an unter den Menschen geweilt hat.
Und höchstwahrscheinlich bist du auch im Inneren ein ganzer Mensch, oder? <<

Dabei sah sie zu Námo.

>> Ich dagegen empfinde keine Lust, weil es bis jetzt keinerlei Wichtigkeit hatte.
Oder gar existiert hat. <<
sagte sie offen.

>> Du könntest versuchen, mich zu verführen und ich würde dich nur knuddeln ohne
einen sexuellen Hintergrund zu sehen. <<
gab sie mit einem amüsierten Schulterzucken zu.

Leonora wurde rot.

>> Wie kommst du jetzt auf MICH?! <<

>> Du warst nur ein Beispiel. <<

Als sie ihn ansprach, zuckte Námo nur mit den Schultern
und grinste.

War es etwa seine Schuld, dass andere Engel scheinbar
dermaßen verklemmt waren, dass sie es nicht einmal
hinbekamen, Lust zu empfinden?

>> Also das heißt, wenn du noch länger bei uns bleibst,
dann könnte es sein, dass du anfängst, einen Jungen zu begehren? <<
fasste Leonora zusammen.

>> Ja, genau so. <<

"Hast du vor, zu gehen, bevor das passiert?"

Das interessierte Námo wirklich.
Blieb sie verklemmt oder öffnete sie sich den...
nun ja...normalen Weiten normaler Emotionen?

Derdekia schwieg und sah auf den Boden.

>> Dann hätte ich nie hierher kommen sollen. <<
war ihre Antwort auf seine Frage.

>> Wie meinst du das? <<
fragte Genika verwirrt.

>> Mit meiner Entscheidung, die Menschenwelt zu
betreten, habe ich einen Prozess, doer besser eine Entwicklung
in mir ausgelöst, die ich nichtmehr aufhalten kann und die mit
jedem Tag, mit jedem Gedanken und jeder Handlung mehr Gestalt annimmt. <<
erklärte Derdekia.

>> Ich werde menschlicher in meinem Verhalten.
Fehler habe ich schon gemacht, die ich nicht ungeschehen machen kann.
Trauer, Glück, Wut, Humor... all diese Aspekte, die einen Menschen ausmachen...
sie kommen langsam in mein Herz. <<

Námo grinste wieder.

"Das ist doch super! Kein Grund, eine Miene zu
ziehen wie sieben Tage Regenwetter. Was hast
du gegen Gefühle?"

>> Nein, Gefühle sind wundervoll.
Die meisten zumindest.

Wovor ich Angst habe, ist...
irgendwann Hass zu verspüren.

Richtigen Hass.

Denn dann dauert es nicht lange und ich könnte zu einer von... Ihnen werden. <<
flüsterte sie mit Furcht in ihrer Stimme.

Leonora sah sie verwundert an.
>> Wer sind.. Sie? <<

"Keine netten Leute", antwortete Námo kurz und bündig.

"Und mach dir keine Sorgen", wandte er sich dann an
Derdekia. "Nicht jeder fühlt irgendwann in seinem Leben
Hass. Und solange du dich davon nicht kontrollieren
lässt, sollte alles in Ordnung sein. Du bist ja immerhin
nett."

Derdekia lächelte erfreut.

>> Du bist so ein lieber Engel. <<
meinte sie erfreut, stand auf und umarmte ihn innig.

Leonora wusste, wieso Derdekia so still geworden war.
Sie gab sich die Schuld an dem Tod ihres zweiten Schützlings.
Weil sie Fehler gemacht hatte.

War es das, was sie so sehr belastete?

Ein wenig überrascht und überfordert von dieser
plötzlichen Zurschaustellung von Zuneigung
klopfte Námo Derdekia einfach auf den Rücken.

Lieber Engel...so hatten ihn bisher noch nicht viele
genannt.

Mit Derdekia gab es eben immer neue Überraschungen...

>> Na, bist du schon eifersüchtig? <<
flüsterte Leonora Genika ins Ohr.

Genikas Gesicht verfinsterte sich kurz,
hellte sich dann aber sofort wieder auf.

>> Nein, wieso? <<

Derdekia ließ Námo derweil wieder los.

Námo blickte kurz zu ihnen hinüber.

"Worüber redet ihr zwei denn da?"

>> Über nichts Wichtiges! <<
meinte Genika sofort.

Derdekia sah die beiden musternd an.

Námo zuckte mit den Schultern.

"Na dann...
Spielen wir jetzt weiter?"

>> Ja, wir fangen jetzt besser gesagt an! <<
meinte Leonora entschlossen und legte eine leere Flasche auf
den Boden.

Námo beobachtete die Flasche genau.

Wer wohl drankommen würde?

Leonora drehte die Flasche.

Und sie blieb bei Genika stehen.

Diese erbleichte und gewann einen neuen Weißton, als sie
Leonoras böses Lächeln sah.

>> Ich will nett sein zu Anfang.
Bist du verliebt, Genika? <<
fragte sie deutlich.

Genika errötete und schwieg kurz.
>> J-ja. <<

Námo fühlte sich versucht, weiterzufragen, in wen denn.

Doch vermutlich würde er ohne das Spiel nichts aus ihr
herausbekommen. Und die Frage war schon gestellt...

Dieselbe Versuchung beschlich auch Leonora,
obwohl sie -als präzise Beobachterin- schon wusste,
wer das Herz des zerbrechlichen Mädchens erobert hatte.

Sie behielt die Frage, in der Hoffnung, dass sie Genika nocheinmal
wann anders ausfragen konnte, für sich und reichte ihr die Flasche.

Genika war erleichtert, dass niemand nachfragte.
Sie durften es ja auch nicht!

Derdekia lächelte fröhlich.
Liebe!

Sie war etwas Wunderschönes....

Dann drehte Genika die Flasche.

Námo fühlte sich versucht, ein bisschen mitzuentscheiden,
wer als nächstes die Flasche abbekam.

Doch das wäre gegen die Regeln des Spiels...

Die Flasche blieb bei Derdekia stehen.

Diese verzog kurz den Mund.

Genika überlegte.
>>> Wahrheit oder Pflicht? <<

>> Ich nehme Pflicht. <<

Námo grinste bereits im Voraus.

Das konnte ja immerhin nciht schaden, oder?

Genika seufzte.

>> Was soll ich dir nur für eine Aufgabe stellen?
Hilfe von außen ist doch erlaubt, oder? <<

Leonora nickte.

>> Und wie. Wir können dir Vorschläge nennen. <<

Sie sah Derdekia an, die ihren Blick automatisch erwiderte.
>> Was mag unsere Derdekia nicht... <<

"So verklemmt, wie sie ist?"

Námos Grinsen wurde breiter.

"Willst du eine Liste?"

>> Verklemmt?
Das ist aber ein sehr negatives Wort für meine Präferenz der
Liebe und meiner Treue zu anderen Pflichten. <<
murrte Derdekia schmunzelnd.

Genika lächelte.
>> Ja, eine Liste wäre toll! <<

"Telefonstreich", meinte Námo.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass Derdekia
das gerne tun würde.

Derdekia verzog unerfreut das Gesicht.

>> Jemanden reinlegen soll ich? <<

Genika nickte begeistert.
>> Ja, genau!
Einen Telefonstreich sollst du machen! <<

"Du hättest auch Wahrheit nehmen können",
erinnerte Námo sie unschuldig.

"Hier ist das Telefon!"

Freundlicherweise hatte er es bereits mit seinen
Fähigkeiten herbeigeholt.