Das Reichenviertel der Stadt

Sie wurden unterbrochen von einem lauten, anhaltenden Hämmern an der Tür.

Derdekia schoss in die Höhe und drückte Leonora wieder in den Sitz, als
sie sich aufrichten wollte.

Einen Gesichtsausdruck hatte sie schon gelernt!
Misstrauen. 

Leonora seufzte.

>> Als ob ich mich nicht verteidigen könnte. <<

Derdekia war schon an der Tür.

Mit geballter Anspannung öffnete sie.

Und stand einem völlig atemlosen Námo gegenüber, der seinen Arm
gerade noch stoppen konnte, bevor er weiter an Derdekia klopfte.

"Genika ist verschwunden", keuchte er.

Derdekia sah ihn erschrocken an.

>> Oh Nein! <<

Sie dachte angestrengt nach und ließ Námo wieder rein.


Leonora kam irritiert aus dem Wohnzimmer.

Sie hatte Námo gehört.

Námo versuchte erst einmal, nach seinem Luftsprint wieder
zu Atem zu kommen.

>> Wir müssen ihr helfen... <<
murmelte Derdekia.

Leonora schüttelte den Kopf.
>> Wie denn?
Sie hat es nicht einmal geschafft, sicher in ihrem Haus zu bleiben.
Anscheinend will sie auch nicht, dass ihr ihr helft. <<

Hätten Námos Blicke töten können, hätte Leonora nun
als brennende Leiche auf dem Boden gelegen.

"Sie ist wahrscheinlich entführt worden und alles, was
du zu sagen hast, ist, dass wir ihr nicht helfen sollen?",
presste Námo zwischen zusammengebissenen Zähnen
zischend hervor.

Er musste sich sehr zusammenreißen, um Leonora nicht
an die Kehle zu gehen.

Derdekias Anwesenheit als Schutzengel spielte dabei eine
nicht unbedeutende Rolle.

Leonora hielt seinem Blick wütend stand.

>> Sie wird uns allen letztendlich zum Verhängnis.
Warts ab!

Aber bitte, es ist ja deine Pflicht, sie zu schützen!

Seltsam, dass sie jetzt was weiß ich wo ist und du nicht bei ihr. <<
knurrte sie zurück.


Derdekia stellte sich zwischen die beiden.

>> Hört auf damit!
Macht euch lieber nützlich und überlegt, wo wir suchen sollten! <<
schimpfte sie die beiden an.

Für den Bruchteil einer Sekunde traf sie der wütende
Blick Námos, doch dann schloss er die Augen und
atmete tief durch.

Als er sie wieder öffnete, waren sie ruhig - erzwungen
ruhig, doch das war im Moment alles, was möglich war.

"Es gab keine Spuren um das Haus - nur die von Genika,
vermutlich von heute morgen."

>> Das heißt, sie war schon mal im Haus.

Meinst du, sie hat es verlassen?
War eine Tasche weg, eine Jacke? Irgendetwas, das auf einen
übereilten Aufbruch hindeutet? <<


Leonora schlenderte zu der Theke und goss sich Wasser ein.
Dabei beobachtete sie ganz genau wie das Wasser in das Glas schoss.

Wie ein Wasserfall.

Námo schüttelte den Kopf.

"Ihr Zimmer war von innen verschlossen. Und das Fenster war offen.
Sie kann da nicht alleine und ohne Hilfsmittel rausgeklettert sein."

Derdekia horchte auf.


>> Du sagst, sie muss in ihrem Zimmer gewesen sein?
Ja, natürlich. Die Tür.

Einen logischen Grund dafür, dass sie einfach rausgeklettert ist, haben wir nicht. <<
überlegte sie.

Leonora musterte ihr gefülltes Glas.

Das artete ja allmählich in einen Real-Krimi aus.
Sie seufzte. Wenn sie das hier so schnell wie möglich beenden wollte, musste sie
den Engeln wohl oder übel helfen. 

>> Dann bleiben wohl nur die Möglichkeiten, dass jemand eingebrochen ist, als
sie wiedermal in Selbstmitleid ertrank. Oder, dass sie diese Person reingelassen hat.

Du sagst, es gab keine Kampfspuren, also wird es wohl die zweite Möglichkeit sein. <<
trug sie dann ihren Teil bei, (fast) ohne verletzende Bestandteile.

Derdekia sah sie nachdenklich an.

>> Du könntest Recht haben. <<

Leonora trank kommentarlos ihr Glas aus.

"Warum sollte sie das tun? Und sich danach mit dieser
Person in ihrem Zimmer einschließen!",
wandte Námo gereizt ein.

Leonora sah ihn ebenso gereizt an.

>> Ich rede nicht von der verdammten Tür.

Überleg mal, wem Genika am meisten vertraut und überall hin
folgen würde. <<
knurrte sie.

Sie hatte eine vage Ahnung, womit sie es hier zu tun haben könnten.

Gerade, nachdem Derdekia sie zurechtgewiesen hatte während Námos Abwesenheit.

Derdekia schien den selben Gedankengang zu haben.

Sie hatte Leonora vor den Intrigen und der Gefährlichkeit der Lichtjäger gewarnt.
Und ihr erzählt, dass sie die Vermutung hatte, einen von ihnen letztens gesehen zu haben.

"Willst du sagen, ich habe Genika entführt?",
knurrte Námo beinahe.

Was bildete sie sich eigentlich ein?

Bevor Leonora einen schnippischen Kommentar abgeben konnte, denn
genau das stand ihr in den Augen geschrieben, intervenierte Derdekia schnell.

>> Nein, ich glaube, das hat Leonora nicht gemeint.

Ihr Gedankengang ist garnicht so abwägig.

Unseren Feinden ist jedes Mittel recht, nicht wahr?

Liegt es da nicht nahe, dass sie Genikas Vertrauen in dich für sich ausnutzen könnten?

Nur als Beispiel: Leonora würde mich auch in ihr Haus lassen, wenn mich bei ihr klingeln
würde. Aber wenn das garnicht ich wäre, sondern jemand anders, der sich als ich ausgibt?

Was, wenn das auch bei Genika passiert ist? <<

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Námo.
Dann war es, als würde alle Wut von ihm abfallen
und die Ruhe vor dem Sturm hinterlassen.

"Sag das bitte noch mal", bat er Derdekia.

Jemand hatte Genikas Vertrauen in ihn ausgenutzt
und missbraucht.

Jemand hatte Genika entführt und dabei sein Gesicht
getragen.

Jemand würde nicht mehr lange zu leben haben.

Derdekia war etwas verwirrt.

Sie kannte sich nicht so gut mit Gefühlen aus, daher ahnte sie nicht,
was in Námo vorging.

Leonora war da schon eher aufmerksam, hielt sich aber schlauerweise zurück.


>> Wir vermuten, dass jemand sich in deiner Gestalt Zugang zu Genikas Zimmer
verschafft hat und sie darauhfin in ihrer Ahnungslosigkeit überlistet und entführt hat. <<
fasste sie daher seiner Bitte folgend zusammen.

Námo wirbelte herum und schritt auf die Tür zu.

"Na los, suchen wir den, der das gemacht hat",
forderte er die beiden anderen auf, während er
das Haus verließ und die Flügel ausbreitete.

Die beiden Mädchen sahen sich kurz an.

Dann folgte Derdekia Námo. Sie machte sich jetzt nicht nur Sorgen
um Genika, sondern auch um ihn.


Leonora seufzte und schloss die Tür hinter sich.

>> Und wo willst du anfangen? <<

"Da, wo Genika ist",
gab Námo zurück und erhob sich mit kräftigem Flügelschlagen
in die Luft.

Da er Genika auf dem Weg nicht gesehen hatte, ob mit oder
ohne Begleiter, hatte er zumindest eine grobe Idee, wo er nicht
suchen musste.

Derdekia war hin und her gerissen.

Dass Námo so überstürzt losflog, hatte sie nicht erwartet.

Sie konnte Leonora schlecht den ganzen Weg tragen.

Aber alleine lassen wollte sie weder Námo noch Leonora. 

Sie entschied sich, ihre eigenen Flügel auszubreiten, Leonora zu packen und 
hinter Námo zu fliegen.

Námo schien noch genug Geistesgegenwart zu besitzen,
ihr ein wenig unter die Arme - oder, in diesem Fall, Flügel
- zu greifen, denn sie erwischte sofort einen kräftigen
Aufwind.

Námo war bereits ein Stück entfernt.

Derdekia lächelte kurz und holte Námo durch seine
Hilfe schnell auf.


Leonora sah nach unten und musste schwer schlucken, als sie die
Entfernung zum Boden schätzte.

Námo ignorierte sie beide.

Er steuerte auf den Wald zu.
An welchem anderen Ort würde ein Mann mit einer Gefangenen
weniger auffallen als an einem, an dem er nicht gesehen wurde?

Derdekia sah sich ebenfalls um.

Sie sorgte sich um Genika.

Die Königsgruppe saß versammelt in Rennas Wohnzimmer.

Es waren nun einige Stunden seit des Zwischenfalls vergangen,
es war kurz vor der abendlichen Dämmerung.

Ciara beobachtete Natasha interessiert, während Liada und Fiona
interessiert die Nachrichten im Fernseher verfolgten und dann auf
eine Kinderserie schalteten.

Renna, die dazwischen saß (wegen unglücklichen Umständen),
runzelte angenervt die Stirn.

>> Ernsthaft?! <<

Edlyn und Lyra tauschten gerade ganz geheimnisvoll ein Rezept in einer Ecke des
Zimmers aus.


Ciara konnte ihre Neugier nicht mehr zügeln und setzte sich neben Natasha.

>> Geht es dir besser? <<
leitete sie die Fragerunde ein.

"Ja - danke für eure Hilfe."

Da, nun hatte sie den Dank hinter sich gebracht.
Sie mochte es nicht, Hilfe von anderen anzunehmen -
doch in diesem Fall war sie bitter nötig gewesen, das
war schon wahr.

Ciara machte eine abwimmelnde Handbewegung.

>> Ach, das haben wir gern für dich getan.

Weißt du, wieso diese Kopfgeldjäger ausgerechnet auf dich aus waren? <<

Natasha schüttelte den Kopf.

"Nein, keine Ahnung."

Sie vermutete, dass es etwas mit ihrer Schwester zu tun hatte,
doch sie konnte das schlecht beinahe völlig Fremden erzählen.