Die Stadt

"Eigentlich meinte ich nur die Verwirrung",
stellte Námo klar, "aber das mit dem Zucken
funktioniert auch."

>> Ah. <<

Derdekia setzte sich wieder normal hin.

Sie würde noch rausfinden, was dieses seltsame Zucken bedeutete.
Sie würde es definitiv.

Nun war es an Námo, sie schief anzublicken.

"Igorierst du es?"

>> Ich versuche es. <<

Sie schwieg.

Dann drehte sie sich um eine Vierteldrehung zu Námo.

>> Sag mal, Námo.

Wieso lässt du deine Flügel immer draußen? <<
fragte sie neugierig.

Von dem plötzlichen Themenwechsel völlig überrascht,
brachte Námo zunächst nur überaus klug heraus:
"Äh...was?"

Äußerst eloquent, wie immer, konnte er dem danach
sogar noch hinzufügen: "Wie meinst du das?"

Derdekia stieg von ihrem Hocker ab und legte beide Hände um
die Flügelansätze an Námos Rücken.

>> Deine Flügel.

Es interessiert mich, wieso du sie niemals einziehst.

Wow, die sind wirklich weich. <<

Sie strich bewundernd über seine Flügel.

Das sorgte wieder für ein kräftiges Zucken der Flügel -
dieses Mal aus Überraschung.

"W-was machst du da?", fragte Námo. Das leichte
Stottern war kaum zu hören - aber es war vorhanden.

>> Ich sehe mir deine Flügel an. <<
meinte Derdekia als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

>> Das wollte ich schon immer wissen!
Ob es einen Unterschied macht, wenn du deine Flügel ständig einziehst
oder sie hängen lässt.

Und es interessiert mich, wieso du sie eigentlich hängen lässt. <<
erzählte sie munter und inspizierte seine Flügel bemüht vorsichtig.

>> Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich nicht von meinen oder Eloas
oder von irgendeinem anderen Schutzengel. <<

"Hängen lassen?"

Námo klang eindeutig beleidigt.

"Ich lasse meine Flügel nicht einfach hängen!"

Was waren denn außerdem das denn für Überlegungen, die
sie da anstellte? Wieso sollten seine Flügel anders sein?

Derdekia sah auf.

>> Oh, entschuldige.
Ich wollte es nicht falsch klingen lassen.

Du hast selbstverständlich eine trainierte Rückenmuskulatur, weil
es enorme Kraft benötigt, solch große Flügel zu tragen. <<
stimmte sie ihm zu.

Dann fiel ihr etwas auf. Recht spät.

>> ... stört es dich, dass ich deine Flügel anfasse? <<
fragte sie etwas verlegen.

Das hatte sie ganz vergessen!

Námo wusste wirklich nicht, was er von Derdekias Worten
halten sollte.

"Ähm...danke? Und es ist ein bisschen ungewohnt...

Du kannst aber weitermachen!", fügte er schnell an.

Er sah es nicht, aber zum ersten Mal tauchte so etwas wie
ein amüsiertes Grinsen auf Derdekias Gesicht auf.

Sie beugte sich zu Námo heran, sodass sie nah an seinem Ohr wahr.

>> Und jetzt würde ich gerne wissen, wieso du mir ausweichst? <<
fragte sie heiter.

Doch es schwang ein ungewohnter Unterton in ihrer Stimme.
Es war ein Schmunzeln.

Námos Gesichtsfarbe wechselte zu der einer Tomate in weniger
als einer Sekunde.

"Äh...ich weiß nicht, was du meinst", wich er noch einmal
'gekonnt' aus.

Derdekia lächelte und war wieder vor ihm.


Dann sah sie ihn ganz aufmerksam an.

Es wunderte sie, dass er auf einmal rot war im Gesicht.
Aber das schrieb sie der überengagierten Erwärmung seines Körpers
nach einer so deftigen Abkühlung zu.

>> Námo, es interessiert mich, wieso du deine Flügel niemals einziehst? <<

"Ähm...also..."

Während er nach Worten suchte, blickte er überall hin,
nur nicht in ihre Augen.

"Ich kann das nicht", gab er schließlich kleinlaut zu, als
er einsah, dass es keinen Ausweg gab.

Derdekia schwieg einen Moment.

>> Oh. Ich hatte schon Angst gehabt, es würden schrecklich
negative Gründe dahinter stecken. <<


Dann dachte sie nach.
>> Du wurdest auf der Erde geboren. Deswegen hast du es wahrscheinlich nie
gelernt.
Aber das ist nicht schlimm. Du kannst ja nichts dafür. <<
meinte sie mit einem so voller Wärme gefüllten Lächeln, das nur ein Engel lächeln konnte.

"Meine Eltern haben versucht, es mir beizubringen",
sagte Námo.

Er wusste nicht genau, wieso er es sagte.

Aber er fand, dass Derdekias Lächeln wunderschön war.

>> Also spürst du die Regung in dir nicht, wenn du versuchst, sie verschwinden
zu lassen, oder? <<
fragte Derdekia noch einmal nach.

Soweit sie darüber Bescheid wusste, konnte das eventuell der Grund sein.

Námo blickte sie an, als käme sie von einem anderen Planeten.

"Was für eine Regung?"

Derdekia verpasste sich innerlich eine Ohrfeige.

Wie konnte er von diesem Gefühl wissen, wenn er bis jetzt
niemals seine Flügel verschwinden lassen konnte?!

Sie überlegte, wie sie es ihm am besten erklären konnte.

>> Also, das ist wenn... du.. <<

Sie schwieg und runzelte die Stirn.

Das war schwerer als gedacht.

>> Warte, ich mache noch einen Versuch. <<

>> Wenn du deine Flügel einziehen willst, dann denkst du daran wie
an den Willen, einen Muskel anzuspannen.
Du denkst und wenn du den richtigen Muskel dafür kennst, dann steuerst du
ihn automatisch.

Das ist der Anfang dafür. Und das kannst du auch, weil du fliegen kannst.
Du spürst deine Flügel.

Um sie wiederum einzuziehen, musst du deine Flügel spüren und gleichzeitig
etwas in die wachrufen.
Es ist schwer zu erklären. Wie ein Kribbeln, nein. Das auch nicht.
Also, es ist Magie, die du in die hervorrufst.

Vielleicht ungefähr hier. <<

Derdekia tippte auf ihr Brustbein.

>> Warte. So kann ich es dir nicht erklären. <<

Sie sprang von dem Hocker runter.

Hinter ihr entfalteten sich ihre Flügel.

Das war das erste Mal, dass Námo ihre Flügel auf
diese Art betrachten konnte, also nahm er sich
Zeit dazu.

Er verstand Derdekias Erklärung ohnehin bisher
nicht.

Derdekia hob eine Hand an ihren Kopf.

>> Du musst daran denken.
Und dann setzt du deine magischen Fähigkeiten ein,
aber du schießt nicht mit ihnen, lässt nichts auftauchen, sondern
du leitest sie mit deinen Gedanken in deine Flügel und ... <<

Ihre Flügel leuchteten kurz auf und lösten sich im Bruchteil einer Sekunde auf.

Sie zuckte mit den Schultern.
>> Es ist schwer, jemandem so etwas beizubringen,
wenn er es nicht spürt.

Und ich kann ja schlecht in deinen Körper kriechen. <<
meinte sie mit einem amüsierten Lächeln.

Námo zwang ein Lächeln auf sein Gesicht und verdrängte
die auftauchenden Gedanken.

"Das kannst du wohl nicht", bestätigte er.

Dann versuchte er es selbst. Er wusste nicht genau, woran
er denken sollte, aber leitete seine magischen Fähigkeiten
in seine Flügel und...

...entfachte einen kleinen Wirbelsturm im Zimmer.

"Ups..."

Schnel stoppte er den Sturm.

"Tut mir leid."

Derdekia hatte sich runtergehockt, um dem Wirbelsturm zu entgehen.

Sie hob den Kopf an, als Námo es wieder unter Kontrolle hatte.

Das Obst war nun in der gesamten Küche verteilt.

>> Kein Problem!
Es ist ja nichts passiert.

Aber es war schon einmal ein Versuch. <<
meinte sie amüsiert, während sie das Obst auf dem Boden aufsammelte.

Skepisch blickte Námo in ihre Richtung.

"Vielleicht solltest du das lieber machen, wenn wir fertig sind",
merkte er an.

Derdekia stellte sich auf und sah ihn kurz überrascht an.

>> Ja, vielleicht hast du Recht. <<

Sie blickte auf die Äpfel in ihrer Hand.

>> Hast du Hunger? <<

Sie nahm zwei Äpfel und legte das andere Obst wieder auf den Boden.
Diese wusch sie kurz im Waschbecken ab und kam entspannt zu Námo.

>> Versuch es ruhig noch einmal. <<
ermutigte sie ihn, ohne ihm den Apfel zu geben.

Námo blickte kurz auf den Apfel und versuchte es dann erneut.

Dieses Mal passierte nichts.
Ein wenig genervt warf er über die Schulter einen Blick auf einen
Flügel. Dadurch bewegte sich der andere und ein zweiter Sturm
wurde entfesselt.

Schnell stoppte Námo auch diesen.

Derdekia sah ihm geduldig dabei zu.

>> Es ist völlig normal, dass du es nicht gleich schaffst. <<
versuchte sie, ihn wieder etwas zu beruhigen.

"Aber immerhin weiß ich jetzt, wie ich einen Raum verwüste",
murmelte Námo missmutig.

Der nächste Versuch endete ähnlich.

Derdekia sah ihn schweigend an.

Dann lächelte sie.

>> Mach dich deswegen nicht fertig.
Man schafft sehr selten etwas auf Anhieb. <<

Sie überlegte.

>> Als ich lernen sollte, meinen Stab auftauchen zu lassen,
war es eine einzige Katastrophe. <<

Bei der Erinnerung daran musste sie lachen.

>> Es hat Jahre gedauert, bis ich meinen Stab das erste Mal auftauchen lassen konnte.
Ich machte mir natürlich Sorgen, ob ich zu schwach dafür war oder ob
ich einfach nicht die Fähigkeiten dafür besaß, denn ich war die Einzige in meiner
Stufe, die es nicht beherrschte. <<
erzählte sie ihm.


Dann schwieg sie kurz.

>> Um ehrlich zu sein... <<

Sie lächelte leicht verlegen und sah kurz aus dem Fenster.
>> ..hing ich in allem hinterher.
Für manche war ich ein hoffnungsloser Fall. <<

Dann lächelte sie wieder fröhlich.
>> Damit möchte ich dir nur zeigen, dass du dich keineswegs aus der
Ruhe bringen lassen musst, wenn du einige Niederlagen hintereinander
erlebst. <<