Die Stadt

Námo überlegte, ob er anmerken sollte, dass dies nicht das erste
Mal war, dass er es versuchte - nur, falls sie es vergessen hatte.
Er entschied sich jedoch dagegen.

Noch einmal versuchte er, seine Kraft auf die von Derdekia geforderte
Art in seine Flügel zu leiten. Er schloss die Augen, um sich besser
darauf konzentrieren zu können, spürte, wie die Magie in seine Flügel
kroch...

Und hörte den nächsten Tornado losbrechen.

Derdekia war von einer Sekunden zur nächsten nicht mehr im Raum.

Erst, als der Tornado sich beruhigt hatte, kam ihr Kopf hinter dem Türrahmen zum
Badezimmer hervor.

>> Was ist denn hier los?
Geht die Welt unter? <<

Genika kam aus dem Schlafzimmer raus und rieb sich irritiert die Augen.

>> Habt ihr gekämpft? <<
fragte sie alarmiert und wich in den Raum zurück.

Derdekia hob sofort beschwichtigend die Hände.
>> Nein, ganz und garnicht! <<

Mit einigen gezielten Luftstößen schob Námo ein wenig Obst unter
den Tisch, um es ordentlicher wirken zu lassen.

"Nur ein kleiner Unfall", erklärte er. "Oder drei oder so."

Genika sah ihn verwirrt an.

>> So so. <<

Dann lächelte sie leicht.
>> Man kann euch wohl keinen Moment allein lassen. <<
meinte sie scherzhaft.

Derdekia lächelte amüsiert.

>> Immer mit dem Kopf über den Wolken, meine Liebe.
Du siehst gut aus. Geht es dir auch so wie dein Äußeres meint? <<

Genika nickte.

>> Der kurze Schlaf hat Wunder bewirkt. Ihr seht dagegen etwas durch den Wind aus. <<

Sie sah zu Námo.

Der grinste verlegen.

"Ja, so kann man das sagen",
bestätigte er.

Genika wanderte unter den Augen der beiden durch die Küche.

Als würde sie Indizien suchen.

Sie fand das Obst und hob eine Banane auf.

>> Wolltet ihr auf dem Boden picknicken? <<

>> Nun ja... <<
begann Derdekia nach Worten ringend.

"Nicht direkt, aber...
Ja. So in etwa",
kürzte Námo die ganze Sache ab.

Genika hob den Mülleimer wieder auf die richtige Seite und sah Námo vielsagend an.


>> Ich merke, ihr wollt mir nicht erzählen, was passiert ist... <<

Sie setzte sich auf den Hocker neben Námo.

Derdekia verfolgte jede ihrer Bewegungen.

Námo räusperte sich und blickte zu Derdekia.

Konnte sie nicht mal was sagen?

"Nur ein kleiner Wirbelsturm, kein Grund zur Sorge..."

Derdekia lächelte ihm aufmunternd zu.

Sie hatte anscheinend kein Bedürfnis, sich bei einem "Schutzengel-Schützling-
Gespräch" einzumischen.


Genika blickte von ihm zu Derdekia und wieder zurück.

>> Aha... <<
meinte sie dann nach einer kurzen Schweigepause.

>> Und wo ist dann Leonora?
Hast du etwa sie angegriffen? <<

>> Oh, nein. Sie ist gegangen. Vorher. <<
mischte Derdekia sich schließlich doch ein.

>> Sie hatte.. <<

>>... keine Lust auf uns? <<
vollendete Genika ihren Satz fragend.

Derdekia nickte überrascht.

Námo murmelte etwas Unverständliches, fügte dem aber
nichts mehr hinzu.

Er sparte sich sein unengelhaftes Verhalten für später auf.

Derdekia schwieg kurz.

>> Genika, wie würde es dir gefallen, wenn wir uns heute
Abend ein bisschen ablenken? <<
fragte sie stattdessen mit einem vorfreudigen Lächeln.
Genika sah verwirrt zu ihr.

>> Wie lenken wir uns denn ab? <<

Ihr kam sofort wieder der letzte Abend in den Sinn mit dem Spiel, das
darin endete, dass sie halbnackt per Computer vor einem ihr fremden Mitschüler gesessen hatte.

Sie wurde sofort rot.

>> Wir hatten daran gedacht, vielleicht in eines der Lokale hier zu gehen. <<
erklärte Derdekia mit einem freudigen Ausdruck.

Es war ganz spannend für sie, diese Welt und ihre Sitten kennenzulernen.

>> Natürlich nur, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. <<

Genika überlegte und sah kurz zu Námo.

Dann nickte sie.
>> Ich hätte nichts dagegen. <<
stimmte sie schließlich zu.

Námo fragte sich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch,
was wohl geschehen würde.

Bisher hatten sie es ja noch nicht geschafft, sich ohne ein
Desaster zu entspannen.

Derdekia bot Genika und Námo erneut einen Tee an.

Genika nahm gerne an und trank den Tee.

Ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick in Námos Richtung.

Námo lehnte den Tee jedoch ab.

"Sonst verwandeln sich meine Innereien noch in Tee",
war seine Begründung.

Genika lachte.

>> Das wäre böse. <<

Derdekia schüttelte amüsiert den Kopf.

>> Na gut. <<

Sie trank den Tee dann selbst.

Námo lehnte sich so lange zurück und beobachtete
interessiert die Decke.

>> Wann wollen wir denn los? <<
fragte Genika die beiden interessiert.

Derdekia zuckte mit der Schulter.

>> Ich weiß nicht, wann man so etwas macht. <<

"Man geht so gegen acht los",
antwortete Námo, ohne sich zu bewegen.

>> Wenn die Dunkelheit hereinbricht? <<
fragte Derdekia.

Genikas Gesicht tauchte in seinem Sichtfeld auf.
Sie musterte ihn interessiert an.

>> Was ist so interessant an der Decke?
Hat Deki etwa... <<

Sie blickte schnell hoch.

>> Nein, keine Leichen. <<

Derdekia zuckte zusammen.
>> Eh?! Leichen? Als ob ich Leichen an die Decke hängen würde! <<

Nun blickte Námo doch zu ihnen und grinste frech.

"Wieso - versteckst du sie zerhackt im Schrank?", fragte er.

Derdekia strich sich über den Nacken und sah etwas verlegen aus.

>> Nein, ich habe sie nicht zerhackt. <<


>> Aber du hast sie im Schrank?
Wenn nicht gehackt, dann zerschnitten? <<
fiel Genika mit ein in die fiese Befragung.

Derdekia hob abwehrend beide Hände.
>> Ich habe keine Leichen!

Wirklich!

Wie könnte ein Engel..so einer wie ich... <<
Sie zeigte untermauernd auf ihr Gesicht.

Es sah verboten unschuldig aus.

>> .. so eine schreckliche Tat begehen? <<

"Umbringen, zerhacken, im Schrank verstecken",
meinte Námo ungerührt.

"Ganz einfach."

Derdekia schauderte bei jedem Wort mehr.

>> Brrr... das klingt grässlich. <<

Sie schwieg.

>> Unschuldigen könnte ich so etwas niemals antun... <<
meinte sie mit einem tiefen Seufzer.

Genika dachte nach.

>> Habt ihr eigentlich so etwas wie Verbote, wenn ihr Gebote habt? <<

Derdekia sah sie überrascht an.

Genika hob die Hände in paralleler Linie an.

>> Ich meine, ihr habt ja das Gebot, uns zu schützen, richtig?

Dann gibt es bestimmt auch weitere Gebote.

Und wenn es Gebote gibt, gibt es doch auch Verbote, oder? <<

Derdekia schien darüber nachzudenken.

Sie zog sich auf die Arpeitsplatte hoch und blieb dort nun etwas ruhiger sitzen.

Diese Frage hatte sie anscheinend überrumpelt.

>> Also, ich würde nicht sagen, dass es Gebote und Verbote sind. <<
begann sie.

>> Was den Schutz von euch angeht.

Das ist eine Herzenssache.
Wir wurden niemals wirklich dazu verpflichtet, euch zu beschützen.

Für mich ist es so, dass ich es will.

Meiner Meinung nach seid ihr, die Nachfahren des Lichtvolkes, unsere Partner.
Ein starkes Band hält uns Engel mit euch zusammen.

Eine Freundschaft, die sich immerwieder mit einem neuen Schutzengel und seinem
Partner aus dem Lichtvolk, beweisen muss. <<
versuchte sie, zu erklären.

Genika hörte interessiert zu.

Ging es Námo ebenfalls so wie Derdekia?

Dass er sie aus freien Stücken beschützte und begleitete?
Oder, dass er sich durch diesen natürlichen Lauf einfach dazu verpflichtet fühlte?

Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Námo.

Derdekia musterte Námo und Genika ruhig.

Námo war jedoch mehr auf Derdekias vorherige Worte konzentriert.

"Du würdest also Leute zerhacken, wenn sie nicht unschuldig sind?",
fragte er neugierig.

Derdekia sah ihn überrascht an.

Námo hat mein Ausweichen bemerkt.

Sie sah ihn kurz schweigend an.

Er las es in ihren Augen.

Ja.

Genika sah Námo und Derdekia irritiert an.
Dann fiel ihr ein, wovon er sprach.

Und sie war beeindruckt von dem Maß seiner Sensibilität.
Ihr war das völlig entfallen.

>> Es hängt von den Umständen ab.

Wenn ich jemanden nur dadurch beschützen könnte,
indem ich die Angreifer töte...
dann denke ich, würde ich es tun. <<
überlegte Derdekia zögerlich.

>> Die Wahrheit ist, dass ich es noch nie getan habe. <<

Sie schwieg.

>> Jemanden umzubringen. <<

Námo öffnete den Mund, um etwas darauf zu erwidern,
doch er wusste nicht, was er dazu noch sagen konnte.

Also schloss er nur wieder den Mund.

Er war sich nicht sicher, ob er dazu in der Lage wäre.

Genika lehnte ihr Gesicht auf eine Hand.

>> Wow, ich wusste nicht, dass ich so wenig weiß. <<
meinte sie mit einem erschlagenen Seufzer.


Derdekia sah zu ihr.

>> Ich dachte immer, dass Engel so sind wie... nun ja,
man sie eben kennt.
Immer lieb, nicht irdisch, unschuldig, stark und Geborgenheit spendend.

Aber, dass es so viele verschiedene Engel gibt mit so vielen Ausprägungen. <<

Derdekia lächelte.

>> Ja, die Wahrheit ist manchmal kalt und warm zugleich. <<

Auch hier enthielt sich Námo eines Kommentars.

Er konnte schließlich nicht sagen, dass er viel mehr
wusste als Genika.

Derdekia sah auf die Uhr.

>> Wollen wir rausgehen, bevor es dunkel wird? <<

Sie sah aus dem Fenster.

>> Ich würde gerne einen Spaziergang machen, wenn du natürlich
schon warm genug bist, Námo.

Und du erholt genug, Genika. <<

Genika nickte.
>> Mir geht es gut. <<